Doing it all? Alleinerziehende Mutterschaft zwischen Kulturen und Zeiten

Unsere Autorin Jacinta Nandi wollte unbedingt ein Interview führen: mit Ruby Russell. Die in Berlin lebende Londonerin hat gerade ein Buch über die feministische Erkundung der alleinerziehenden Mutterschaft veröffentlicht. Sie zeichnet die Geschichte viktorianischer Bordelle, der Wohlfahrtsbewegung und Schwarzen feministischen Traditionen nach. Herausgekommen ist mit „Doing it all“ ein Porträt von Mutterschaft als Knotenpunkt der Solidarität – jenseits der Ehe und des patriarchalen Status quo.

Was damit genau gemeint ist? Das versucht Jacinta in diesem Gespräch herauszufinden.

Jacinta: Ruby, wann und warum hast du beschlossen, „Doing it all“ zu schreiben?

Ruby: Als ich alleinerziehende Mutter geworden bin, hat das bei mir viele Fragen aufgeworfen – zum Beispiel, warum ich es für selbstverständlich gehalten hatte, dass ich einen Mann brauchen würde, um ein erfülltes Leben und eine Familie zu haben. Ich stellte viele Vorstellungen in Frage und wollte Geschichten über alleinerziehende Mütter lesen, konnte aber keine finden. Stattdessen las ich erst einmal Texte über die Geschichte der Ehelosigkeit und die Geschichte der Hurerei. Und ich suchte nach Einblicken in eine Identität, die im Schatten dieser beiden weiblichen Archetypen verborgen lag. Ich suchte außerdem nach Texten, die alleinerziehende Mütter politisch untersuchten. Wie etwa die Arbeit von Barbara Omolade, die in den 1980er Jahren in der Sisterhood of Black Single Mothers in den Vereinigten Staaten aktiv war. Ich fand nicht nur Geschichten von Müttern, die verfolgt und bemitleidet wurden, sondern auch von Frauen, die überlebten, wuchsen und Widerstand leisteten. Frauen, die an vorderster Front für die Rechte von Sozialhilfeempfängern, für die Rechte von Sexarbeiterinnen und für Kinderrechte kämpften. Und von Frauen, die hinter dem ersten ernsthaften Vorschlag für ein universelles Grundeinkommen standen. 

Ich bin keine Historikerin und mein Buch ist kein Geschichtsbuch, vielmehr möchte ich Frauen feiern, die das Patriarchat in seinem Kern herausgefordert haben. Im ursprünglichen Sinne des Wortes bedeutete Patriarchat die männliche Herrschaft über die Familie, und in der postfeministischen „gender-progressiven“ Gesellschaft, in der wir leben, ist die Familie immer noch der Ort, an dem Frauen und Männer am ungleichsten sind.

Es gibt ja aktuell wieder eine wachsende Bewegung von Frauen, die sich dieser Idee widersetzen: die Single Moms by Choice. Als ich mein Buch „50 Ways to Leave Your Ehemann“ schrieb, dachte ich, dass ich auch eine Single Mom by Choice wäre, weil ich meinen Ex ja freiwillig verlassen hatte. Inzwischen kenne ich aber den Unterschied: Eine Single Mom by Choice hat sich bereits vor der Schwangerschaft bewusst dafür entschieden, ein Kind alleine zu bekommen, so wie Mindy Kaling, Jennifer Anistons Figur in The Switch. Ich bewundere Mindy und bin auch ein bisschen neidisch auf sie, weil ich glaube, dass ich nie eine Single Mom by Choice geworden wäre. Zum einen, weil ich arm war, aber auch, weil ich etwas Romantisches an mir hatte. Ich habe nicht eine Sekunde daran gedacht, mein Kind allein zu bekommen. In deinem Buch stehst du diesem Konzept der Single Mom by Choice ja eher etwas kritisch gegenüber. Warum ist das so?

Ich kritisiere nicht die Frauen, die sich für Kinder ohne Mann entscheiden. Im Gegenteil, Single Moms by Choice sind meine Heldinnen und ich finde, dass mehr Frauen diese Entscheidung treffen sollten. Aber ich kritisiere die Art und Weise, wie sich einige von ihnen durch das Wort „by Choice“, also durch ihre „freie Wahl“, von anderen Alleinerziehenden abgrenzen. Sie benutzen eine neoliberale Sprache, um sich vom Rest der „schlechten alleinerziehenden Mütter“ zu distanzieren – von Versagerinnen, deren Familien durch Unfälle und Verantwortungslosigkeit entstanden sind.

Dass es heute mehr Diskussionen zu Single Moms by Choice gibt, eröffnet aber eine neue wichtige Dimension. Denn du und ich, wir beide haben ja eine ähnliche Lebensgeschichte. Wir standen damals vor der Wahl, entweder ein Kind zu bekommen oder abzutreiben. Diese Wahl war für uns eine Gesamtentscheidung unter Einbeziehung des Partners. Also: Partner und Kind oder Abtreibung. Ich wünschte, ich hätte damals schon gesehen, dass es auch andere Möglichkeiten gibt, die ich hätte wählen können. 

Waren wir damals romantisch oder dumm? Ich glaube nicht. Ich denke, es ist ein gesellschaftliches Problem. Für viele bedeutet die biologische Beziehung eines Mannes zu einem Kind, dass das Kind ihm gehört. Auch wenn wir heute dafür eintreten, dass Frauen über ihren Körper selbst bestimmen können, also das Recht auf Abtreibung haben sollten, gehört unser Körper, sobald wir Mutter sind, auch anderen – nämlich unseren Kindern, und unsere Kinder gehören auch ihren Vätern. Es ist ziemlich schwer, sich von diesem Gedanken zu lösen. Damals sah ich, dass das Baby genauso zu ihm gehörte wie zu mir. Welches Recht hatte ich also, ihn aus der Familie auszuschließen? Welches Recht hatte ich, mich als alleinerziehende Mutter zu bezeichnen?

Und wie hast du dich dieser Fragestellung dann genähert? Beantwortet der Feminismus diese Frage?

Wenn wir an die großen Siege des Feminismus denken, dann waren sie vor allem in traditionell männlichen Bereichen zu verzeichnen: das Recht zu wählen, zu arbeiten, am öffentlichen Leben teilzunehmen, Identitäten zu erlangen, die nicht durch die traditionell weibliche Rolle der Mutter und Hausfrau definiert sind. Das Recht, wie ein Mann zu leben. Und natürlich sind diese Dinge absolut wichtig. Müttern helfen sie aber nur begrenzt, denn als Mutter ist das Ziel ja nicht, wie ein Mann zu leben. Also stellt sich die Frage: Wie kann man Feminismus mit Mutterschaft vereinbaren? 

Wenn man sagt, dass es unfeministisch oder sogar antifeministisch ist, sich der Care-Arbeit zu widmen – der Arbeit der Mütter –, dann stimmt man irgendwie auch der frauenfeindlichen Idee zu, dass die Arbeit, die Frauen immer gemacht haben, schlecht und unwichtig ist. Und, dass die Unterdrückung von Frauen eine natürliche Folge des Kinderkriegens ist.

Ja, viele weiße Feministinnen sagen, Frauen sollten nie von Männern abhängig sein, dann vermeiden sie Unterdrückung. Diese Girlboss „Ich verdiene mehr als mein Mann“-Schiene.

Genau. Es gibt aber Kulturen, die das anders bewerten. Schwarze Feministinnen haben diese Falle in der Regel vermieden – auch, weil die weiße Vorherrschaftsgesellschaft ohnehin nie wollte, dass sie sich ihren eigenen Familien widmen. Was weiße Frauen oft vergessen haben, ist, dass wir nicht nur zu Hause gehalten wurden, um Babys zu machen – wir wurden zu Hause gehalten, um weiße Babys zu machen. Wenn man jedoch Kinder aufzieht, die (um Audre Lorde und Feministinnen of Colour zu zitieren) „nie zum Überleben bestimmt waren“, dann ist das Muttersein keine Kapitulation vor der Unterdrückung, sondern ein Akt des Widerstands. Deshalb ist der Feminismus von Frauen wie Audre Lorde, Barbara Omolade, Patricia Hill Collins und Alexis Pauline Gumbs so wichtig. Diese Frauen haben Theorien und Praktiken entwickelt, die Mutterschaft als politische Arbeit und die Familie als mächtige Sphäre des sozialen Aktivismus begreifen.

Schwarze Feministinnen haben dein Buch sehr beeinflusst, oder?

Um ehrlich zu sein, kam ich mir ziemlich dumm vor, denn die meisten Fragen, mit denen ich das Buch begonnen hatte, waren vom Schwarzen Feminismus schon vor Jahrzehnten umfassend beantwortet worden. 

Die grundlegende Lektion, die ich daraus gelernt habe, war folgende: Die „antirassistische“ weiße Macht versucht, weiße Privilegien auf Schwarze Gemeinschaften auszudehnen, indem sie diese in die weiße Kultur assimiliert – zum Beispiel, indem sie Schwarze Familien dazu ermutigt, zu heiraten und die weiße Kernfamilie nachzuahmen. Aber genauso wie die Ausweitung männlicher Privilegien auf Frauen nicht viel nützt, müssen wir auch hier, wenn wir Gleichheit wollen, die Dinge aus der anderen Richtung angehen. Wir sollten nicht die Privilegien der Weißen, Männer, Heteros, Cis, Mittelschicht usw. auf immer mehr Schwarze, Frauen, Queers, Trans und die Arbeiterklasse ausweiten, sondern diese Privilegien ganz abschaffen. Dazu müssen wir von denjenigen lernen und ihnen nacheifern, die wissen, wie man ohne sie lebt. Nicht aus einem herablassenden Impuls heraus, die Unterdrückten zu erheben, sondern um das Leben für alle besser zu machen.

Kannst du das mal konkretisieren? Ich fand beispielsweise die Idee der Othermothers interessant. Erzähl uns doch mal was eine Othermother ist.

Othermothering ist ein perfektes Beispiel dafür, was wir von Schwarzen Müttern und Schwarzen Feministinnen lernen können. 

In der weißen, rassistisch geprägten Gesellschaft wurde von Schwarzen Müttern immer erwartet, dass sie arbeiten, und sie mussten sich auf die Großfamilie und Freunde verlassen, um die Last zu tragen. Eine Othermother ist eine Frau, die ein Kind großzieht, das nicht „ihr eigenes“, also nicht ihr biologisches Kind ist. Schriftstellerinnen wie Patricia Hill Collins verwenden den Begriff „othermothering“ aber auch in einem weiteren Sinne, um Netzwerke gegenseitiger Fürsorge zu beschreiben, die ganze Gemeinschaften zusammenhalten und unterstützen – die Arbeit der Aufrechterhaltung von Zugehörigkeit, die über die unmittelbare Familie hinausgeht.

Für alleinerziehende Mütter könnte diese Art weiblicher Solidarität eine pragmatische Lösung sein, die unser aller Leben erleichtert. Aber sie ist auch eine tiefgreifende Herausforderung für das Patriarchat, weil sie Elternschaft als aktive Praxis definiert und nicht als unveränderliche genetische Tatsache. Wenn die wichtigsten elterlichen Beziehungen im Leben eines Kindes mit Menschen bestehen, die sich aktiv um das Kind kümmern, dann erscheint der Anspruch eines biologischen Vaters auf ein Kind als „sein“ Kind, nur weil er die Mutter geschwängert hat, ziemlich schwach. 

Evolutionsanthropologen haben übrigens einen ähnlichen Begriff: Sie sprechen von „allomothering“, wenn sie argumentieren, dass die kollektive Kindererziehung für die menschliche Evolution wesentlich war – aus dieser intensiven Gemeinschaftsarbeit hat unsere Spezies Empathie und Kultur entwickelt. Dies zeigt nur, dass es nichts „Natürliches“ an den Privilegien oder der Unterdrückung der weißen Mittelschichts-Kernfamilie gibt.

Eine Sache, die mich wahnsinnig macht, ist die Diskussion um Gleichberechtigung. Oberflächlich betrachtet sollte die Gleichberechtigung bei der gemeinsamen Erziehung – auch zwischen getrennten Elternteilen – doch zu mehr Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern führen. Aber die Realität ist, dass Gleichberechtigung – oder diese vermeintliche Gleichberechtigung, die wir in Deutschland haben – alleinerziehenden Müttern sogar schaden kann. Weißt du, was ich meine?

Ich erinnere mich an ein Mal, als der Vater meines Kindes ein paar Wochen lang völlig verschwunden war. Dann rief er plötzlich an und wollte unsere Tochter am nächsten Tag sehen. Aber wir hatten bereits Pläne mit Freunden, die aus England zu Besuch waren. Er sagte: „Warum darfst du entscheiden, was sie morgen macht? Ich bin genauso ihr Elternteil wie du.“ Er hat Zeit für sie gefunden, als ein freier Termin in seinem Kalender auftauchte. Ich habe mein ganzes Leben um sie herum gestaltet, jede andere Kleinigkeit, die ich tat, musste sich nach ihren Bedürfnissen richten. Genau das wird von Müttern erwartet – von Vätern nicht. Wenn Väter ihre „Rechte“ als Miterzieher in Anspruch nehmen, entscheiden sie sich aktiv dafür, ein gewisses Maß an Verantwortung zu übernehmen. Es macht keinen Sinn, über die Rechte von Müttern zu sprechen, weil wir diese Entscheidung nicht treffen können. Wir müssen einfach die ganze Verantwortung tragen, die Väter nicht tragen wollen oder können – egal, ob das nun 50 % oder 100 % sind. Unsere Leben nach Verantwortlichkeiten auszurichten, die jemand anderes aus einer Laune heraus definiert, kann unglaublich entmündigend und destabilisierend sein. Das meinst du, oder?

Ja! Denkst du, dass Deutschland trotz aller Herausforderungen ein gutes – oder zumindest okayes – Land ist, um alleinerziehend zu sein?

Ich schätze, das hängt davon ab, womit man es vergleicht. Ich würde sagen, dass Länder wie Deutschland, die sich selbst als besonders fortschrittlich betrachten, eher dazu neigen, in die Falle zu tappen, dass sie davon ausgehen, dass Gleichheit bereits besteht, und daher die geschlechtsspezifischen Unterschiede zwischen Mutter- und Vaterschaft, wie etwa in Sorgerechtsfällen, ignorieren. Außerdem ist Deutschland, wie der Rest des globalen Westens, eine atomisierte und individualistische Gesellschaft – was für alleinerziehende Mütter schlecht ist, weil sie Gemeinschaft brauchen. Kulturen, Subkulturen und Gemeinschaften, auf die der „fortschrittliche“ Westen herabblickt, weil sie in „veralteten“ Vorstellungen von Geschlecht und Familie verhaftet sind, können für Mütter – auch für alleinstehende – einfacher sein, weil Kindererziehung als kollektive Verantwortung angesehen wird und die Unterstützung durch die Großfamilie selbstverständlich ist.

Danke Ruby. Mein Kopf raucht. Das war viel Inhalt. Und ich habe auch viele Denkanstöße mitgenommen. Der vielleicht wichtigste: den Blick weiten und Konzepte anderer Kulturen miteinzubeziehen.

Über Ruby Russell
Ruby ist alleinerziehende Mutter und Umweltjournalistin. Ursprünglich aus London, lebt sie derzeit mit ihrem Kind und ihrer Katze in Berlin.  

Über Jacinta Nandi
Jacinta ist britisch-deutsche Autorin und zog mit 20 Jahren von London nach Berlin. Ihr zuletzt erschienenes Buch „50 Ways to Leave Your Ehemann“ (Nautilus Verlag) ist aktuell im Theater Paderborn auf der Bühne zu sehen. Außerdem steht Jacinta im Rahmen des Familientrios den Leser*innen der Süddeutschen Zeitung mit Rat und Tat zur Seite. 

Doing it all
The Social Power of Single Motherhood

Ruby Russell
Hardcover
ISBN-13: 9780349702186
ca. 22 Euro

Von Jacinta Nandi