Interview mit Ruth Herzberg

Die aktuelle Situation ist die Fortsetzung von Ruth Herzbergs erfolgreichem Roman Wie man mit einem Mann unglücklich wird. Beim Lesen des Bandes habe ich gelacht, geweint, mich (fremd-)geschämt – und mich wiedererkannt. Ruths autofiktionaler Roman beschreibt die Struggles einer alleinerziehenden Mutter mitten im Corona-Berlin – einer Mutter, die zwischen Sehnsucht nach einem Mann und dem Bedürfnis nach Autonomie ebenso changiert wie zwischen der Liebe zu ihren Kindern und dem Bedürfnis nach einem Leben abseits der täglichen Mutterpflichten.

Ruth, I feel you – und ich habe ein paar Fragen:

Liebe Ruth, dein Buch ist schwer zu beschreiben, der Klappentext, der beschreibt, dass es die Lesenden an den Rand des „Nervenzusammenbruchs“ treibe, passt aber meiner Meinung nach recht gut. Du nimmst uns mit in den Alltag einer alleinerziehenden Mutter in Berlin – zu Lockdown-Zeiten. Ist Die aktuelle Situation autobiografisch?

Ja. Die aktuelle Situation handelt strikt und ausschließlich von mir. Ich habe mich und meine Lebenswirklichkeit als Material benutzt. Aber als Schriftstellerin will ich keine Informationen weitergeben oder wissenschaftliche Fakten vermitteln, sondern in erster Linie Geschichten erzählen. Die Leser*innen emotional berühren und dabei auch noch (hoffentlich) gut unterhalten. 

Die Ich-Erzählerin in Die aktuelle Situation hat ein Eigenleben entwickelt und sie lebt auch nicht in Berlin, sondern in einer Fiktion. Und in der Fiktion kann man etwas über mich oder über sich und unsere Welt wiedererkennen. Ich hoffe jedenfalls, dass mir das gelungen ist.

“Ich erzähle Geschichten, also lüge ich”, sagte Ingmar Bergman. 

“Ich bin Madame Bovary“, sagte Flaubert. 

Ich habe selbst lange in Berlin gelebt und viele deiner Erlebnisse erinnern mich an mein Jahrzehnt in der Hauptstadt. Mir war nur nicht klar, dass dieses intensive Erleben auch mit Kindern weitergeht. Wie schafft deine Protagonistin den Spagat zwischen alleinerziehender Mutterschaft, Berliner Boheme, sexuellen Eskapaden und Männern, die alles nur noch schlimmer machen?

Die Spagate, es sind ja mehrere Sphären, in denen sie leben will, macht sie der Spagate wegen. Weil sie all ihre Anteile leben muss, um sich vollständig zu fühlen. Die Mütterlichen, die Intellektuellen, die Sexuellen. Wie sie das macht, steht im Buch. 

Was war die besondere Herausforderung in Corona-Zeiten?

Während der Pandemie fielen wegen der Maßnahmen die Zerstreuungsmöglichkeiten weg, die bei Problemen normalerweise für kurzfristige Entlastung sorgen. Man hatte wegen der Abstandsregeln und Ausgangssperren wenig Spielraum, sich von belastenden Situationen zu befreien. Die Krise war Dauerzustand. 

Das Alltagsleben verödete, um so mehr war dann im Innenleben los. Da erblühten dann allseits die Neurosen. Im Buch steht an einer Stelle: “Ich habe im Lockdown die gleichen Probleme wie früher und jetzt aber nur noch die.”

Auf einigen Seiten bekommt man den Eindruck, die Protagonistin wünscht sich nichts sehnlicher als Normalität, dann folgt aber wieder dieser No-risk-no-fun-Habitus. Also, Normalität oder Chaos? Oder doch einfach Schlafen?

Alles! 

Immer wenn man sagt: “Mir reicht’s mit dem Wasser, ich will ab jetzt nur noch Ebbe haben…“, kommt garantiert die Flut und wenn man sich an das viel zu viele Wasser gewöhnt hat und richtig schön am Planschen ist, dann sitzt man bald wieder auf dem Trockenen. Da ist es von Vorteil, wenn man flexibel auf die Umstände reagieren kann. Dazu gehört manchmal auch, sich ihnen ergeben zu müssen. So ist das Leben.

Deswegen heißt mein Roman ja auch: Die aktuelle Situation und nicht: “Der ewige Dauerzustand”. 

In einem „Reality Check“ vergleichst du „die Armee der Gebundenen“ mit der „One-Woman-Show“ und sagst „Wenn der Ehering fest sitzt, darf das Make-up gerne mal etwas dezenter ausfallen.“ Kannst du das weiter ausführen? Sind eigentlich wir Single Moms demnach die lässigeren Frauen?

An dieser Stelle besucht die Ich-Erzählerin eine Elternversammlung und ist danach mit ihrem Lover in spe verabredet. Das heißt, sie hat sich in Schale geworfen und platzt fast vor Vorfreude. Sie fühlt sich wild und frei, sexy, lebendig und jung. Die Elternpaare auf der Versammlung, kommen ihr vergleichsweise alt und ergraut vor. 

Andererseits wird ihr klar, dass ihr Auftritt mit Make-Up und High-Heels auch was Verzweifeltes an sich hat. Weil sie damit zeigt, dass sie unbedingt einem Mann gefallen will. 

Wohingegen die anderen Mütter das nicht nötig zu haben scheinen. Die haben sich nicht zurechtgemacht und haben trotzdem jemanden an ihrer Seite. So gesehen, ist es schwer zu sagen, wer lässiger ist.

Vielleicht sollten alle mehr miteinander sprechen und sich zuhören?

In einem Kapitel von Die aktuelle Situation stellt die Ich-Erzählerin fest, dass das mit dem einander Zuhören in unserer Gesellschaft ein echtes Problem ist. Die Menschen wollen oder können das nicht. Stattdessen unterbrechen sie einander, fühlen sich rasch angegriffen, bedroht oder gelangweilt, wenn man sie bittet, einen anzuhören. Kommunikation dient zu oft der Selbstdarstellung oder wird zum Machtspiel umgedeutet. Aber es gibt Hoffnung. Zuhören ist eine Technik, die man erlernen kann. David Servan-Schreiber stellt sie in seinem sehr lesenswerten Buch: “Die neue Medizin der Emotionen” vor. Er nennt es “Mit dem Herzen zuhören” und beschreibt, wie man Traumatisierten und Menschen in Not schon in kurzer Zeit signifikant helfen kann, durch aufmerksames Zuhören und die richtigen Nachfragen. Wer mehr wissen möchte, gebe “Emotionale Kommunikation” in die Suchmaschine ein. 

Aber selbst, falls – wie so oft im Single-Mom-Alltag – mal wieder niemand zuhört, warum ist das Leben trotzdem „schön“?

Falls eine Produktionsfirma bitte endlich auf die sehr naheliegende Idee kommen sollte, aus der “Aktuellen Situation” Kinofilm oder gar eine Serie entwickeln zu wollen, muss der Song “Im Zweifel für den Zweifel” von Tocotronic in den Soundtrack. Das Leben ist schön, wenn man sich lebendig fühlt. Das Lied erklärt ganz gut, wie das geht. 

Danke, Ruth, für diese Einblicke und deine Offenheit. Es tröstet mich zu wissen, dass das Leben anderer Alleinerziehender ähnlich chaotisch ist wie meins – und eben trotzdem „schön“.

In ihrem Buch verrät Ruth übrigens auch noch, dass ihr Bett die „Schaltzentrale“ ist, von der aus sie sich Hilfe organisiert, wenn gar nichts mehr geht und gewährt Einblicke in einen Alltag, in dem auch mal das Geld knapp ist.

Traut ihr euch zurück in den Lockdown? Mit Ruths Buch Die aktuelle Situation wird’s zumindest nicht langweilig – versprochen!

Über die Autorin

Ruth Herzberg wurde 1975 in Ost-Berlin geboren. Nach einem Drehbuch-Studium an der Filmhochschule Konrad Wolf in Babelsberg widmet sie sich hauptberuflich dem Schreiben von Prosa. 2014 erschien Wie man mit einem Mann glücklich wird, eine Sammlung ihrer Kurztexte. 2021 kam ihr Romandebüt Wie man mit einem Mann unglücklich wird heraus, von dem auch eine Hörfassung produziert wurde. Sie lebt und schreibt in Berlin-Prenzlauer Berg. Die aktuelle Situation ist die Fortsetzung ihres erfolgreichen Debüts.

Die aktuelle Situation

Ruth Herzberg
248 Seiten, Taschenbuch
ISBN 978-3-948631-22-2
EUR 20,00 [D]

Die aktuelle Situation ist die Fortsetzung von Ruth Herzbergs erfolgreichem Roman Wie man mit einem Mann unglücklich wird, inklusive Einkäufen mit Handschuhen, steigenden Bitcoin-Kursen, geschlossenen Grenzen, Begegnungen mit selbsternannten Gurus, Home Schooling-Erleuchtungen, Neuen Normalitäten, Permanent Vacation Feelings, Spirit Animals als letzter Rettung – und immer wieder zu viel Liebe und zu wenig Sex oder umgekehrt.

Von Sara Buschmann