Wie man Kinderarmut (nicht) bekämpft
Christian Lindner will an der Kindergrundsicherung sparen und macht dabei Stimmung nach rechts
Wo bleibt eigentlich der Aufschrei über das Interview, das Christian Lindner im Februar t-online gegeben hat und in dem er rassistische Klischees nutzte, um gegen die geplante Kindergrundsicherung Stimmung zu machen? Wer es nicht mitbekommen hat: Im Januar hat Familienministerin Lisa Paus ein finales Konzept für die Kindergrundsicherung vorgelegt und die Zeit drängt: Wird das Konzept nicht bald beschlossen, verzögern sich auch weitere Schritte, die notwendig sind, um die Kindergrundsicherung bis 2025 auf den Weg zu bringen. Aber das Finanzministerium um Christian Lindner stellt sich quer, die 12 Milliarden Euro an jährlichen Mehrkosten seien zu hoch. Unfassbar, wenn man bedenkt, wie schnell 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr freigegeben werden sollten. Was noch schlimmer ist: wie Christian Lindner in einem aktuellen Interview mit rassistischen Vorurteilen die Kindergrundsicherung just in Frage gestellt hat. Die Kinderarmut sei laut Lindner schließlich vor allem durch Zuwanderung gestiegen und Sprachkurse für Eltern wären womöglich die nachhaltigere Alternative. Damit lenkt er vom eigentlichen Problem ab – und das nützt seinen Zielen.
Die Kindergrundsicherung ist ein unverzichtbarer Teil im Kampf gegen Kinderarmut, darum wird sie schon seit Jahren von vielen Seiten gefordert und steht auch im aktuellen Koalitionsvertrag an prominenter Stelle. Das aktuelle Konzept für die Kindergrundsicherung schnürt Sozialleistungen zu einem Paket, die Eltern aktuell noch einzeln beantragen müssen. Und um diese Sozialleistungen beantragen zu können, müssen Eltern wissen, dass es sie gibt: Aber zwei Drittel der geringverdienenden Eltern, denen etwa der Kinderzuschlag von bis zu 250 Euro pro Kind zustehen würde, beziehen diese Sozialleistung gar nicht – diese Info ging kürzlich aus einer Anfrage der Linksfraktion im Bundestag hervor. Die Kindergrundsicherung soll die Bringschuld umkehren: Familienkassen sollen zukünftig auf die Eltern zukommen und sie aktiv über relevante Leistungen informieren. Das kostet das Geld, insbesondere weil dann mehr Familien entsprechende Leistungen beziehen. Aber auch an anderen Stellen ist das Sparen an den Maßnahmen gegen Kinderarmut laut einem Zeit-Artikel, der alle Kosten aufgeschlüsselt und Sparmaßnahmen diskutiert, nicht sinnvoll.
Nicht Sprachbarrieren, sondern veraltete Strukturen machen Kinder arm
Jedes fünfte Kind in Deutschland gilt als arm. Diese Zahl hält sich seit Jahrzehnten stabil – Statista geht etwa bis 2005 zurück, damals waren 19,5 Prozent der Kinder in Deutschland von Armut betroffen. Zum Vergleich: 2020 waren es nur 0,7 Prozent mehr. Es mag stimmen, dass die Kinderarmut durch Zuwanderung gestiegen ist, wie Christian Lindner erklärt – im Sinne von: minimal. Aber das große Problem hinter Kinderarmut ist nicht etwa eine Sprachbarriere, auch wenn das in den Ohren einer rechteren Wählerschaft gut klingt. Die Fakten erzählen eine andere Geschichte: „Von allen Kindern in staatlicher Grundsicherung leben 50 Prozent in alleinerziehenden Familien“, schreibt die Bundeszentrale für politische Bildung. Erst danach kommen mit 36 Prozent Kinder in Familien mit drei oder mehr Kindern. Auch die Bertelsmann-Stiftung hat längst in anderen Studien belegt, dass das Armutsrisiko für Familien mit jedem weiteren Kind steigt. Und ja, das gilt auch für Paarfamilien. Woran liegt das genau?
Die Gründe dafür sind vielschichtig und doch recht einfach zu formulieren: In Deutschland sind Betreuungsangebote und Arbeitsmarkt immer noch zu sehr am traditionellen Familienbild aus Ernährer und Hausfrau angepasst. Am Beispiel von Alleinerziehenden: Laut Bertelsmann-Stiftung müssten Alleinerziehende langfristig in Vollzeit erwerbstätig sein, um der Armut zu entkommen. Gleichzeitig könne auch diese Pauschalaussage nicht für alle von ihnen gelten, denn: Wenn Alleinerziehende kein eigenes Geld verdienen, läge das Armutsrisiko für ihre Kinder bei 96 Prozent. Arbeiten sie in Teilzeit, machen 41 Prozent der Kinder Erfahrungen mit Armut. Gehen Alleinerziehende allerdings in Vollzeit einer Lohnarbeit nach, liegt das Armutsrisiko für ihre Kinder immer noch bei 2 Prozent. Immer noch bei ZWEI Prozent! Zwei Prozent von 2,6 Millionen sind 52 Tausend Ein-Eltern-Familien, die trotz Vollzeitarbeit immer noch in Armut leben! Arbeit verhindert eben nicht in allen Fällen Armut. Dazu kommt: Die Vierzig-Stunden-Woche ist für viele Alleinerziehenden einfach nicht leistbar. Warum? Das liegt an der Betreuungssituation.
380.000 Kitaplätze fehlen in 2023
Aktuell gehen nur 35 Prozent aller Kinder unter drei Jahren in eine Betreuungseinrichtung. Die Journalistin und getrennterziehende Mutter Teresa Bücker hat kürzlich in einem Tweet aufgezeigt, wie weit wir von der Idee entfernt sind, dass zeitnah alle Eltern erwerbstätig sein könnten: „Würden morgen alle Eltern von Kindern unter drei Vollzeit arbeiten wollen, bräuchte es über 1,5 Millionen neue Plätze. […] Im Zeitraum von 2015 bis 2020 wurden etwa 135 000 zusätzliche Plätze in Kitas und bei Tageseltern geschaffen. Bei dem Tempo bräuchte Deutschland für 1,5 Millionen neue Kitaplätze dann gut fünfzig Jahre.“ Gemessen an den tatsächlichen Betreuungswünschen der Eltern werden 2023 wohl rund 380 000 Kitaplätze fehlen.
Das bedeutet: Die Infrastruktur in Deutschland macht Kinder arm, nicht Eltern mit Sprachbarrieren, wie Finanzminister Christian Lindner behauptet – und in seiner Position sollte er es eigentlich besser wissen. Nachhaltig gegen Kinderarmut zu kämpfen würde bedeuten, schleunigst Kinderbetreuungangebote zu schaffen und den Arbeitsmarkt so umzustrukturieren, dass 25 bis 30 Stunden pro Woche als neue Vollzeit gelten. Und um direkt Vorurteilen entgegenzuwirken: Alleinerziehende Mütter gehen neben Haushalt und Kinderbetreuung durchschnittlich 31 Stunden pro Woche arbeiten und damit fünf Stunden länger als Mütter in Paarbeziehungen.
Lindners Strategie hat vorher schon nicht funktioniert
Wenn man den Finanzminister Christian Lindner so beobachtet, fällt auf, dass er Krisen generell lieber mit einer liberalen „Belohnt wird, wer mehr verdient“-Haltung begegnet – oder auch „Wer wenig verdient, verdient auch weniger Unterstützung“. Immer geht es um den ‚Anreiz zur Arbeit‘, der müsse erhalten bleiben. Und diesen Anreiz kann er nur aufrechterhalten, wenn es auch noch eine berechtigte Angst vor Armut gibt. Das absurde Motto dahinter: Kinderarmut bekämpfen, indem mit Kinderarmut gedroht wird. Konkret: Lindner agiert immer wieder lieber mit Steuersenkungen (für Familien etwa Kinderfreibeträge) statt mit Sozialleistungen. Aber solche Maßnahmen haben Geringverdiener*innen mit Kindern noch nie geholfen, weil sie die Probleme nicht bei der Wurzel packen. Die Bertelsmann-Stiftung hat etwa ausgerechnet, dass ein höherer Kinderfreibetrag bei der Steuererklärung auch nur jenen Alleinerziehenden hilft, die mehr verdienen. Für Geringverdiener*innen bringt die Erhöhung genau: gar nichts. Deshalb bleibt die Kinderarmut auch seit Jahrzehnten auf gleichem Niveau.
Wie sich Lindners Vorgehen konkret auswirkt: Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hatte im September 2022 für Zeit Online berechnet, wie gerecht die Maßnahmen des dritten Entlastungspaketes wirklich sind; vom Inflationsausgleich bei der Einkommensteuer, über das höhere Kindergeld bis zur Senkung der Mehrwertsteuer auf Gas. Das Ergebnis: Geringverdienende Alleinerziehende erhalten im Durchschnitt 496 Euro jährlich durch das Entlastungspaket – das sind 41 Euro pro Monat. Kurios ist, dass reiche Menschen laut Berechnungen noch viel mehr ‚entlastet‘ werden: „Eine Familie mit einem Einkommen von 155104 Euro bekommt 2464 Euro vom Staat erstattet, muss aber nur 2440 zusätzlich für Energie aufwenden. Sie macht also ein Plus von 24 Euro“, schreiben die Zeit-Journalisten Marcus Gatzke und Mark Schieritz. Ihr Fazit: Steuersenkungen sind eben kein Mittel, um besonders stark belastete Menschen zu entlasten, im Gegenteil.
DIW-Finanzexperte Stefan Bach: „Um die Maßnahmen stärker auf die Mittelschicht zu konzentrieren, wäre zum Beispiel eine Erhöhung der Energiepauschale sinnvoll gewesen, die dann bei höheren Einkommen stärker abgeschmolzen wird als bisher.“ Aber das sei politisch nicht durchsetzbar gewesen, weil dazu möglicherweise der Spitzensteuersatz hätte angehoben werden müssen, und dagegen hätte sich die FDP gewehrt. Und genau das gleiche passiert nun mit der Kindergrundsicherung. Sie wirkt nicht über Steuern, also Arbeit, sondern von der anderen Richtung; als ‚Pauschale‘, die bei höherem Einkommen ‚abgeschmolzen‘ werden kann. Es gibt keine andere Möglichkeit, um Kinderarmut zu bekämpfen und somit in die nächste Generation zu investieren. Und stattdessen lenkt unser Finanzminister den Dialog auf Sprachschulen und Integration? Familienministerin Lisa Paus hat keine Zeit, die Sache auszusitzen, denn die Kindergrundsicherung sollte 2025 auf den Weg gebracht werden. Darum vermittelte sie kürzlich im Deutschlandfunk Verhandlungsbereitschaft: Es gebe einen Spielraum. Natürlich wird das wiederum zulasten der Kinder gehen. Ich vermisse einen Aufschrei.
Teile des Textes stammen aus dem Buch Solo, selbst & ständig – Was Alleinerziehende wirklich brauchen, das am 26. April im Kösel-Verlag erscheint.
Diese Kolumne wird unterstützt von der Stiftung Alltagsheld:innen.
Von Anne Dittmann