Nachteilsausgleich

Mit dem Abitur in den Händen und dem ersten eigenen Auto unterwegs war ich 19 Jahre alt und die Welt lag mir zu Füßen. Nichts konnte mich aufhalten. Ich sprühte vor Energie und Lebensfreude. Den Sporttest gewuppt, startete ich im Sommer 2006 in das Lehramtsstudium für Gymnasien und Gesamtschulen mit den Fächern Sport- und Erziehungswissenschaften. Kurze Zeit später lernte ich meine große Liebe kennen und zu Beginn des vierten Semesters wurde ich stolze Mama. Zum Ende des Semesters bereits war ich jedoch alleinerziehend. Plötzlich, unerwartet, unvorbereitet.

„Jetzt erst recht“, sagte ich mir und fing nach nur einem Urlaubssemester mit dem Hauptstudium an. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich aber noch nicht, dass es recht kompliziert, recht kostspielig, recht anstrengend und zu meiner persönlichen Empfindung als junge, alleinerziehende Mutter teilweise recht ungerecht zuging.

Die Welt türmte sich von Tag zu Tag höher vor mir auf

Ich erlangte das erste Staatsexamen mit einer Note von 2,0. Hierfür benötigte ich aber vier Semester mehr als es die Regelstudienzeit vorsah. Finanziell hatte ich mich also jetzt schon weit mehr verschuldet, als andere Student*innen dies taten. Und leistungsfähig war ich eben auch nicht so wie andere, denn auch mein Tag hatte nur 24 Stunden, in denen ich alles, vom Einkauf, Lernen, Hausputz, Betreuung des sehr jungen Kindes und meine eigene Regenerationszeit unterbringen musste. Alles step by step, alles eins nach dem anderen. Denn während ich in der Uni war oder nachmittags mit dem Kind auf dem Spielplatz, gab es niemanden, der schon mal das Abendessen kochte, den Einkauf erledigte oder die Wäsche aufhing. Und es gab auch niemandem, mit dem ich über meine Erziehungskompetenzen reflektieren konnte, der das Kind zwei Nachmittage betreute, damit ich auch Vorlesungen am späten Nachmittag besuchen konnte oder nachts aufstand, weil ich am nächsten Morgen eine Prüfung hatte. Schlussendlich scheiterte ich dann im Referendariat, denn während ich im Studium noch das ein oder andere „Schlupfloch“ fand und länger studierte, gab es diese Möglichkeiten im Referendariat nicht. Nach nur einem halben Jahr beendete ich auf eigenen Wunsch hin die praktische Lehrerausbildung, am Ende meiner körperlichen Kräfte. Lange Zeit später zweifelte ich noch an mir selbst, nicht gut genug gewesen zu sein, möglicherweise den falschen Studiengang gewählt zu haben oder einfach den Belastungen des Arbeitsalltags nicht gewachsen zu sein. Die Welt, die einst vor meinen Füßen lag, türmte sich von Tag zu Tag höher vor mir auf. Wie ein Berg, der mir die Aussicht versperrte und kaum zu erklimmen war.

Rückblickend war das der Tiefpunkt

Auf der Suche nach Arbeit stellte ich dann noch fest, dass ein gutes Examen, ein Universitätsabschluss, auf dem Arbeitsmarkt überhaupt keinen Wert hatte. Ich bekam eine Absage nach der anderen, und selbst als Erzieherin, für deren Ausbildung ich nach Abschluss meines Referendariats an Berufsschulen qualifiziert gewesen wäre, wurde ich nicht eingestellt, denn „mir fehlten die praktischen Erfahrungen am Kind.“ Rückblickend betrachtet war dies der absolute Tiefpunkt meiner beruflichen Laufbahn. Doch es sollte gleichzeitig ein Wendepunkt werden.

Auch die Umwelt- und Rahmenbedingungen sind wichtig

Ich fing an als Schulbegleiterin zu arbeiten. Ich betreute und pflegte über mehrere Jahre hinweg Schülerinnen mit besonderen Beeinträchtigungen an Förderschulen. Eine Tätigkeit, die ungelernten Fachkräften zugeschrieben wird und entsprechend des Mindestlohnes bezahlt wurde. Hier erfuhr ich allerdings, dass es viele Menschen gibt, die, irgendwie genau wie ich, an der Teilhabe des regulären Lebens gehindert waren. Ich beschloss, die Ausbildung zur Heilpädagogin zu machen. Mein Menschenbild erweiterte sich. Ich lernte, dass es nicht immer nur die eigenen Fähig- und Fertigkeiten sind, die es zu optimieren gilt. Auch die Umwelt und die Rahmenbedingungen sind wichtig, um überhaupt leistungs- und arbeitsfähig zu sein. Ein für mich bis dahin völlig unbekannter Denkansatz. Lag es also vielleicht doch nicht nur an mir, im bisherigen Berufsleben gescheitert zu sein? War es nicht auch irgendwie unfair, dass ich aufgrund der Betreuung meines kranken Kindes drei wissenschaftlich fundierte Seiten ausarbeiten musste, weil ich meinen fünfzehnminütigen Vortrag verpasst hatte? Und warum musste ich acht Wochen lang an einem Praktikum teilnehmen, weil die Kinderbetreuungszeiten ein Vollzeitpraktikum nicht zuließen, während Student*innen in Vollzeit nur vier Wochen benötigten. Hätte ich nicht auch in einem geringeren Umfang geforderte Kompetenzen erwerben können? Ich war doch eine gute Studentin. Hätte der Praktikumsbericht nicht angezeigt, dass ich genügend oder ungenügend viel gelernt hatte? Für die anderen Student*innen schlossen sich vier Wochen Semesterferien an das Praktikum an. Für mich fing nach dem Praktikum direkt das nächste Semester wieder an – ohne Regenerationszeit – ohne Pause. Heute bin ich mir sicher, dass man auch andere Alternativen hätte finden können. Und heute würde ich auch mehr für meine Belange als alleinerziehende Mutter einstehen. Aber damals glaubte ich noch an persönliches Versagen.

Es könnte Alleinerziehenden leichter gemacht werden

Dank meines aktuellen Studiums des Sozialmanagements weiß ich heute, dass Organisationen lernfähig sind. Ich weiß jetzt, dass Arbeitgeber*innen eine gewisse Fürsorgepflicht für Mitarbeitende haben und das wir als Leitungskräfte für das Miteinander im Team und auch für gegenseitiges Verständnis bei familiären Belastungen Sorge zu tragen haben und als Vorbild agieren und handeln müssen. Und genau hier möchte ich ansetzen. Wohlwissend, dass es meine eigenen Erfahrungen sind, von denen ich berichte, glaube ich dennoch, dass es Alleinerziehenden leichter gemacht werden könnte, in Ausbildung, Studium und Arbeitswelt zu bestehen und wünsche mir für alle Alleinerziehenden mit Klein(st)kindern einen Nachteilsausgleich. Insbesondere junge Alleinerziehende müssen die Doppelbelastung von Klein(st)kind und Berufseinstieg meistern. Und auch wenn ich ein Beispiel dafür sein kann, dass jede*r Alleinerziehende dies schaffen kann, gibt es nicht eine einzige Freundin in meinem Umfeld, die in den oben beschriebenen Jahren auch nur vier Wochen mit mir hätte tauschen wollen. Als Sozialmanagerin, die ich heute geworden bin, möchte ich meine Personalverantwortung für familiäre Belange ernst nehmen und auch auf politischer und juristischer Ebene Pionierarbeit leisten. Jetzt habe ich wieder genügend Zeit und Energie dafür, denn auch Kinder werden größer und selbstständiger. Das dürfen wir nicht vergessen. Aber die ersten Lebensjahre sind eng begleitet und fordern eine große Menge Energie. Hier kann ein Nachteilsausgleich, der jeweils individuell auszuhandeln ist, große Unterstützung leisten. Und wenn dieser politisch und juristisch durchgesetzt ist, brauche ich mich als junge Mutter auch nicht „im negativen Sinne“ beweisen, mit der Doppelbelastung Studium und Kindererziehung stellenweise überfordert zu sein. Ich hoffe so sehr, dass bald jede junge, alleinerziehende Mutter oder jeder alleinerziehende Vater Hilfe in Anspruch nehmen kann, bevor es soweit kommt, an seinen oder ihren beruflichen Fähigkeiten zu zweifeln.

Ein Nachteilsausgleich würde helfen

Bis heute bereue ich nicht einen einzigen Tag Mama geworden zu sein. Das Bewusstsein für die Unterstützung junger (Ein-Eltern-)Familien scheint in den letzten Jahren etwas zu wachsen. Und wenn dieser kurze Einblick in meine Biografie ein klein wenig zum Nachdenken anregt, ist ein weiterer Teil hinzugekommen.

Ich bin sehr dankbar, dass ich damals zu Ende studiert habe, denn ansonsten hätte ich nicht mein Masterstudium aufnehmen können. Ich bin aber auch dankbar, dass die damalige Zeit vorbei ist und ich heute, immer noch alleinerziehend, mit jetzt vierzehnjährigem Kind, deutlich entspannter studieren und arbeiten kann. Eine für mich persönlich ungemein positive Erfahrung.

Es ist nichts unmöglich, andere machen es vor

Ich schreibe diesen Artikel auch, weil ich hoffe, dass meine Gedanken von SOLOMÜTTER in die Welt und vor allem in die Politik getragen werden können. Wichtig zu erwähnen ist mir, dass es bereits ja schon das Konzept des Nachteilsausgleichs für Menschen mit Beeinträchtigungen gibt. Dieses gilt es ja „eigentlich nur“ auf Ein-Eltern-Familien zu übertragen. Ich glaube, damit ist ein großer Schritt zu mehr Chancengleichheit geschaffen, damit ich als Alleinerziehende in Ausbildung oder Studium nicht auf die Gunst des Prüfungsamtes angewiesen bin, die mir entweder wohlwollend oder verständnislos bei der Bewältigung meiner Doppelbelastung im Weg stehen. Wenn es einen juristisch und politisch verankerten Nachteilsausgleich gäbe, hätten vielleicht mehr Alleinerziehende die Kraft und den Mut, für ihre Belange einzustehen. Bei meinen Recherchen bin ich übrigens auf ein Dokument der Universität Braunschweig gestoßen, die einen Nachteilsausgleich für Familien, Ein-Eltern-Familien und Student*innen haben, die Angehörige pflegen. Es ist also nichts Unmögliches, was ich hier fordere.

Ich hoffe sehr darauf, euch für mein Thema zu interessieren. Dass ich mich überhaupt auf den Weg gemacht habe, hierüber zu schreiben, war ursprünglich eine Interviewanfrage einer lokalen, privaten Redaktion, die mich als „Superheldin“ der aktuellen Zeit darstellen wollte. Als „Mutmacherin“ für andere Mütter. Doch das widerstrebt mir zutiefst. Ich sehe mich nämlich nicht als Mutmacherin. Eher finde ich es traurig, dass erstens: Müttern ihre Kinder bereits nach wenigen Monaten wieder abgenommen werden und sie fremdbetreut werden, damit Mütter wieder (wie zuvor ohne Kind) arbeiten gehen können. Das ist für mich ein nicht richtiger Ansatz, denn der suggeriert mir jungen Mutter ja, dass mein Leben mit Kind eigentlich genau so weiter laufen solle, wie ohne. Und wehe, ich bin mal müde oder sage, dass das Leben mit Kind anstrengend sei. Das darf man in dieser Gesellschaft ja gar nicht sagen. ABER es ist so!!! Zweitens kann ich, wenn ich nach nur wenigen Monaten Vollzeit-Mamasein wieder arbeite weder Kontakt zu Gleichgesinnten (jungen Müttern) knüpfen noch meine Erziehungskompetenzen ausbilden. Denn wie soll das gehen, wenn ich tagsüber am Arbeiten und das Kind nie zu Hause ist? Zudem scheinen ja alle Psychologen auf der Erde davon abzuraten, Kleinstkinder von den Müttern fremd zu betreuen. Aber das scheint ja politisch gesehen, die einzige Lösung zu sein, Mütter zu unterstützen. Hier sehe ich Reformationsbedarf, wie oben beschrieben in Form eines Nachteilsausgleichs. Die Interviewanfrage habe ich mit diesen Gründen abgesagt und konnte so ein Umdenken der Redakteurin bewirken. Jetzt wollen wir uns auf lokaler Ebene über meine Ideen unterhalten.

von Gastautorin Eva