Erschöpfung und Fuck
Wenn die persönliche Krise so schlimm ist, dass sie die allgemeinen Krisen da draußen überschattet, hat man dann Glück? Ich suche nach dem Glück, unablässig wie damals, als ich mit etwa zehn Jahren ein Fünf-Mark-Stück in einer hohen Wiese hatte fallen lassen und es nicht mehr sehen konnte. Fünf Mark – das war viel Geld. Das wäre es auch jetzt noch, wenn es die Mark noch gäbe. Aber die gibt es nicht mehr, genauso wie meinen Traum, den ich schon damals hegte, wobei das vielleicht zu viel gesagt ist. Ich hegte ihn damals vermutlich noch nicht, aber, was ich ganz sicher weiß, er begann sich ganz langsam und schleichend in meinem Kinderherzen auszubreiten. Ein Traum, den man, wenn man zehn Jahre alt ist, ganz zart und verschwiegen mit sich trägt und hofft, dass er mal wahr werden wird. Und irgendwie wurde er es ja auch. Partnerschaft, Kinder – all das.
Die Halme dieser Wiese wachsen seither nimmermüde Jahr für Jahr und werden gemäht und wachsen, werden gemäht und wachsen. Und das taten und tun sie, während ich erwachsen wurde. Auch in diesem Jahr. Dem Jahr, in dem ein gelebter Traum zu Ende ging. Und bestimmt wäre es das pure Glück, sich einfach hinzustellen und diesen Halmen dabei zuzusehen. Weil es so friedvoll und getreulich dabei zugeht. Genau das hatte ich mir doch so gewünscht. Jahraus jahrein. Doch nun stehe ich, seit einem ganzen Jahr, mitten in einem Leben, das seine Beständigkeit verloren hat. Das seinen Zusammenhalt eingebüßt hat. Eine einst geglaubte Unverwüstlichkeit. Wenn eine Familie zerbricht, verlieren alle zunächst einmal Stabilität und Gelassenheit. Man wird in eine Phase der Härte und des Widerstands gezwungen. Es wird unbequem. Es wird bedauernswürdig. Es werden Träume begraben. Es werden Dinge auf den Kopf gestellt, geweint und betrauert. Gründe gesucht. Die Leistungsgesellschaft, die Rollenbilder, ich, er, die Arbeit, der Wohnort – alles wird herangezogen. Braucht man doch hin und wieder einfach irgendwen, der einem zuwider sein kann. Verachtung, Zurückweisung – man kann, man wird immer wieder geringschätzen, angreifen, alles satt haben. Eine Trennung bedeutet in dieser Phase des Lebens nicht nur den Abschied vom Partner/ der Partnerin, sondern ein Abschied von allem, woran man geglaubt und wofür man jahrelang gearbeitet hat. Es bedeutet einen Stellvertreterschmerz für die Kinder, man leidet für sich und für sie. Weint wegen und mit ihnen. Weint um und über das Vergangene. Plötzlich ist das alles nicht einfach nur das Leben, es ist das Leben davor und danach. Es ist die eine und die andere Zeit. Und seit knapp einem Jahr befinde ich mich in dieser Zeit nach der anderen Zeit. Einer anderen Zeit, die in Fotoalben und kleinen Kisten davon erzählt, dass sie mal da war. Die nur verhalten preis gibt, warum sie nicht mehr da ist. Eine Zeit, die in den beiden Kindern ihren Ausdruck findet. Und diese Kinder, die zum Ausdruck bringen, dass auch sie bedauern. Wenn eine Familie zerbricht, verabschieden sich Menschen von gemeinsamen Zielen. Die vorangegangene Aussichtslosigkeit tröstet manchmal darüber hinweg. Aber eigentlich schleppt man sich monatelang kleinlaut und verzweifelt durch dieses Leben, was man so nicht wollte. Muss lernen, muss akzeptieren. Muss den daraus entstehenden Chancen ihren Platz einräumen, muss dem Leben zustimmen, dass es bestimmt recht hat. Muss versuchen, es gut zu machen. Doch etwas gut machen, wenn es einem schlecht geht – kann man das? Da ich lange nicht dieser Meinung war, habe ich auch diesen Text hier vor mir hergeschoben. Die realistischsten Texte getrennt erziehender Menschen, sind die, die nicht geschrieben werden. Vor Kraftlosigkeit, vor Mattheit, vor Fuck. Und auch vor der Tatsache, dass es irgendwie nichts zu sagen gibt für eine sehr lange Zeit.
Ich habe damals lange in der Wiese gestanden und das Fünf-Mark-Stück gesucht. Vergebens. Es verloren zu haben war schmerzlich. Es sind diese Momente im Leben eines Kindes, die einem sanft und freundschaftlich lehren, wie sich Verlust anfühlt. Dieses Fünf-Mark-Stück glitzert in meiner Erinnerung so vielversprechend in meiner Hand wie der Traum einer funktionierenden Familie. Wenn etwas verloren geht, das einem lieb ist, tut das weh. Und wenn es um fünf Mark geht, heißt das keinen selbst gekauften Schokoriegel. Geht es um einen fürs Leben aufgestellten Plan, heißt es zunächst mal Verlorenheit in einer Welt voller Glück der anderen. Bis man anerkennt, dass es weitergeht. Bis man dem Leben seine Hand wieder entgegenstreckt und ihm erlaubt, dir ein Fünf-Mark-Stück zu schenken. Für einen Schokoriegel, von dem man dann allen etwas abgibt. Weil irgendwie soll es doch allen gut gehen damit.
Svenja aka Tante Kante schrieb sich jahrelang die Mutterschaft von der Seele. Sprach in ihrem eigenen und anderen Podcasts darüber, inspirierte, kritisierte. Auch als sich die familiäre Situation änderte schrieb sie darüber. Sie bearbeitete unsere konventionellen Beziehungskonzepte und stellte Lebensentwürfe in Frage. Seit 2021 ist sie vom Vater ihrer Kinder getrennt und nahm sich erstmal Zeit für sich. „Die realistischsten Texte von getrennt Erziehenden sind die, die nicht geschrieben werden“, sagt sie. „Vor Erschöpfung. Vor Fuck.“ Nun fasst sie zum ersten Mal in Worte, wie es sich für sie anfühlt, noch mal von vorne anzufangen.
von Svenja aka Tante Kante