New Mom: Interview mit Autorin und Pädagogin Susanne Mierau
Susanne Mierau ist eine von vielen New Moms, die ihre Töchter aufklären und stärken möchten gegen das Patriarchat und seine Folgen. Was das in Bezug auf feministische und bedürfnisorientierte Erziehung heißt, erklärt sie in ihrem neuen Buch »New Moms for Rebel Girls«. Unsere Gründerin Sara hat mit Susanne gesprochen und ihr Fragen zu diesem wichtigen Sachbuch gestellt.
Liebe Susanne, als erstes habe ich mir den Satz: „Mütter sind nie perfekt und müssen es auch gar nicht sein“, in deinem Buch unterstrichen. Das klingt schon mal erleichternd! Kannst Du uns dazu ein bisschen was sagen? Steht dieser Satz denn nicht im Gegensatz zu einem Mütter-Ratgeber?
Ich benutze für meine Bücher ja nicht gerne das Wort “Ratgeber”, weil das den Fokus falsch legt: Man denkt, dieses Buch sei die Lösung für irgendwelche Probleme. Gerade aber in Erziehungsthemen sind da ganz unterschiedliche Menschen – Kinder wie Erwachsene – und es gibt kaum pauschale Lösungen oder Empfehlungen für alle. Es geht in meinen Büchern eher um Reflexion. Ich finde Sachbuch dann noch passender als Ratgeber.
Und deswegen hast Du auch Recht: In einem Ratgeber erwartet man nicht zu lesen, dass man nicht perfekt sein muss. Damit würde sich der Bucherwerb ja quasi erledigen. Aber gerade dieser Aspekt ist in Bezug auf Elternschaft heute so wichtig: Wir bekommen von allen Seiten so viel Druck, sind mit so vielen Idealen und Erwartungen belastet, was uns den Alltag erschwert. Dabei können wir aus Bindungssicht auch ganz klar sagen: Kinder brauchen keine perfekten Eltern, keine perfekten Mütter. Dass wir jeden Tag Fehler machen, ist okay, ist sogar in Anbetracht der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für Elternschaft und der Erziehungsmethoden der Vergangenheit erwartbar und viele vermeintliche Fehler verlaufen sich im sonst liebevollen Alltag.
Du sprichst in „New Moms for Rebel Girls“ von Patriarchatsresilienz. Kannst Du uns dieses Wort und seine Bedeutung einmal erläutern?
Die Bezeichnung “Resilienz” kennen wir aus der Pädagogik und Psychologie. Sie meint die psychische Widerstandsfähigkeit einer Person. Das Patriarchat hat verschiedene negative Auswirkungen auf unser Leben. Leider ist es nicht möglich, dass wir von heute auf morgen das Patriarchat weltweit abschaffen. Unsere Kinder sind mit den Auswirkungen des Patriarchats heute und auch in der Zukunft an vielen Stellen konfrontiert: schon in Kinderbüchern, Serien, in Institutionen etc. Deswegen ist es wichtig, ihnen eine Widerstandsfähigkeit dagegen mitzugeben: Dass sie lernen, zu erkennen, welche Einflüsse da warum auf sie wirken und dass sie viele Dinge nicht persönlich auf sich beziehen müssen, sondern von außen darauf schauen können. Beispielsweise: Okay, es gibt dieses Schönheitsdruck, der hat sich aus dem Patriarchat entwickelt, ich mach da nicht mit.
Warum ist es eigentlich nötig unsere Töchter (und Söhne) für dieses Thema zu stärken und zu sensibilisieren? Sind wir denn „nicht alle längst gleichberechtigt“?
Es wird uns so viel eingeredet, dass wir doch schon so viel erreicht haben und schon längst gleichberechtigt wären, aber das stimmt so nicht. Ja, der Feminismus der vergangenen Jahrzehnte hat durchaus schon viel bewegt, wenn wir auf die Situation der Frauen vorher blicken, aber wir sind noch lange nicht da angekommen, wo wir in Sachen Gerechtigkeit stehen sollten. Schauen wir beispielsweise einmal auf die kaum sichtbaren “Kleinigkeiten” in unserem Alltag: die #rosahellblaufalle, die sich in den Spielzeug- und Bekleidungsabteilungen aufmacht und Kindern Spielzeug und Kleidung zuweist: Spielzeug, das mit Care-Tätigkeiten verbunden ist (gerne in rosa) oder körperliche Optimierung (Schönheitslabor als Experimentierkasten für Mädchen), Shirts mit Aufdrucken wie “Cute” oder “kleine Prinzessin” für Mädchen. Das geht weiter darin, dass Frauen in der Alltagssprache klein gehalten werden, indem wir als “Mädels” bezeichnet werden, die natürlich auch “Mädchenbier” trinken. Und es geht handfest weiter darin, dass Klimaanlagen an den Stoffwechsel von Männern angepasst sind, wodurch Frauen häufiger frieren (was dann wieder oft ein Thema von Spott von Männern gegenüber Frauen ist) oder Medikamente häufiger an männlichen Probanden getestet werden, was zu Nebenwirkungen führen kann. Ganz zu schweigen vom Gender-Care-, Gender-Pay- und Gender-Renten-Gap. Wir sind nicht gleichberechtigt.
Im weiteren Verlauf Deines Buches geht es dann erst einmal einen Schritt zurück: Du ermutigst Deine Leser:innen sich mit ihrer eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Warum spielt diese eine Rolle für das eigene Elternsein?
Unsere Vergangenheit hat uns in vielen Bereichen geprägt und beeinflusst oft bis heute unser Handeln, gerade auch im Erziehungskontext. In Bezug auf die Sozialisation als Frau ist es ganz besonders wichtig, dort einmal genau hinzusehen: Was hat mich geprägt? Welche Rollenvorbilder, welche Werte? Wie durfte oder musste ich als Mädchen sein und welche Erwartungen finden sich daraus auch heute noch in meinem Denken wider?
Ich bin ja selbst alleinerziehende Mutter. Auch unsere Familienform findet in Deinem Buch Erwähnung. Ohne selbstgefällig zu sein: Kann es sein, dass wir Single Moms in puncto feministischer Erziehung einen Vorteil haben? Unsere Kinder lernen im Alltag, dass wir Frauen arbeiten, Dinge reparieren, die Steuererklärung machen, Hecke schneiden und mit dem Auto zum TÜV fahren. Das ist doch was, oder?
Ich würde das nicht allein auf Single Moms beziehen, es gibt bestimmt auch andere Familien mit einer nicht-rollenspezifischen Aufteilung, aber insgesamt hast du durchaus recht: Im klassischen Familienmodell sind Aufgaben oft geschlechtsspezifisch aufgeteilt und werden so ja auch als Vorbild weitergegeben.
Mein Mann ist mit einer alleinerziehenden Mutter in der DDR groß geworden und sagt, dass er dadurch schon als Kind viel mehr in Care-Tätigkeiten eingebunden wurde.
Alleinerziehende haben oft auch mehr Stress und Druck als andere Elternteile. Du erwähnst die Wichtigkeit des eigenen Wohlbefindens. Warum?
Stress wirkt sich enorm auf zwischenmenschliche Beziehungen aus, auch auf die Eltern-Kind-Beziehung. Durch Stress sind wir weniger feinfühlig, haben oft weniger Handlungsspielraum, beispielsweise auch zeitlich für die Begleitung der Kinder. So kann es schneller zu Konflikten und negativem Erziehungsverhalten kommen.
Und hast Du auch eine Idee, wie wir in dieser Hinsicht achtsamer werden könnten? Die Arbeit und der Alltag müssen ja gestemmt werden, ob wir wollen oder nicht.
Eigentlich ist es die Aufgabe von Gesellschaft und Politik, hier einzulenken und Stress zu reduzieren. Wenn ich den Vorschlag lese, die Arbeitszeiten sollen erhöht werden auf eine 42-Stunden-Woche, verärgert mich das sehr, weil es kurzsichtig gedacht ist: Es ist nachteilig für den erwerbsarbeitenden Menschen, es ist aber auch nachteilig für die Menschen in dessen Umgebung wie Kinder und zu pflegende Angehörige.
Aktuell ist aber nicht absehbar, dass es eine Reduzierung der Erwerbsarbeitszeiten gibt – wie sie ja auch in anderen Ländern schon vorgenommen wurde – und es allgemein eine größere Unterstützung für Familien und insbesondere Alleinerziehende gibt. Daher bleiben wir tatsächlich erstmal selbst darauf sitzen, uns um uns zu kümmern: Netzwerke sind dabei wichtig, gegenseitige Unterstützung, mehr Verteilung von Lasten auf mehrere Schultern (beispielsweise einkaufen, kochen,…). Unser Fokus auf die abgeschiedene Kleinfamilie ist ein großer Nachteil für Familien, aber gerade auch Alleinerziehende. Wir müssen da unseren Blick verändern – und zwar unabhängig ob wir Alleinerziehend sind oder nicht. Gegenseitige Vernetzung, Unterstützung und Gemeinschaft sind wichtig in diesen Zeiten.
Ist es eigentlich von Nachteil, dass wir unseren Kindern keine intakte Familie bieten oder eben keine gesunde Paarbeziehung vorleben können? Was macht dies mit dem Bindungsverhalten unserer Kinder?
Unsere Vorstellung davon, was “richtig” ist, ist ja auch gesellschaftlich geprägt und führt – wie vieles andere – bei Abweichung zu Schuldgefühlen. Kinder können sehr gut auch in anderen Familienmodellen jenseits von Mutter-Vater-Kind aufwachsen. Dazu gibt es ja weltweit viele verschiedene Beispiele von Familienmodellen.
In Bezug auf die Bindung des Kindes ist es wichtig, wie die Bedürfnisse des Kindes beachtet und beantwortet werden. Es ist also wichtig, dass es Menschen (mindestens einen) gibt, die Signale wahrnehmen, richtig interpretieren und beantworten. So können Kinder – kurz gefasst – ein sicheres Bild von sich aufbauen und erleben, dass sie wahrgenommen und wertgeschätzt werden.
Natürlich werden Kinder, die nicht mit einer Paarbeziehung von Erwachsenen aufwachsen, anders sozialisiert als andere, haben eine andere Umgebung, andere Herausforderungen. Das muss aber nicht per se negativ sein. – Genauso wenig, wie Kinder, die in einer Paarbeziehung von Erwachsenen aufwachsen, nicht deswegen alle überhaupt keine Probleme hätten.
Von Dir stammt der schöne Satz: „Wichtig für unsere Kinder ist, dass sie mit einer sicheren, liebevollen Grundmelodie der Beziehung aufwachsen.“ Was gehört dazu und wie schaffen wir das?
Wichtig ist für unsere Kinder, dass sie sein können, wer sie sind und wir sie so annehmen. Ständiges verbiegen von Menschen und Anpassungsdruck tut ihnen nicht gut und wirkt sich auch auf die Beziehung zwischen den Menschen aus. Unsere Kinder sollten lernen: da ist eine Bezugsperson in meinem Leben, auf die ich absolut vertrauen kann, die ich immer ansprechen kann, die für mich sorgt. Und auch wenn wir mal Konflikte haben, dann können wir die miteinander lösen.
Nochmal zurück zu den Töchtern: Mit Resilienz, Selbstwertgefühl und Widerspruchsrecht können wir ihnen möglicherweise einen Schutzmantel mit auf den Weg geben, richtig?
Ja, wir können sie leider nicht davor bewahren, dass sie negative Erfahrungen machen werden: Dass ihre Körper bewertet werden, dass jemand sie belästigt und nein, wir können auch nicht vor Gewalt schützen – denn die Verantwortung liegt bei Tätern (ich nutze hier bewusst die männliche Form in Bezug auf Gewalt gegenüber Mädchen/Frauen), nicht bei den Opfern. Wir müssen als Gesellschaft (und Individuum) dafür sorgen, dass Menschen nicht Täter werden. Aber jenseits davon können wir ihnen ein gewisses Rüstzeug mitgeben, damit sie mit den Herausforderungen des Lebens gestärkt umgehen können.
Ein weiterer interessanter Aspekt ist das Thema Pubertät und Sexualität. Du bestärkst Mütter auch dieses Thema offen, natürlich dem Alter der Kinder entsprechend, anzugehen. Was ist aus Deiner Sicht wichtig für eine gute Begleitung durch die Pubertät?
Ganz wichtig ist wie so oft der Blick auf das Kind als Mensch. Gerade in der Pubertät findet noch einmal eine starke Abwertung statt: Wir lesen von PuberTieren, viele Eltern machen sich (gerade auch in Social Media) Lust über stinkende Kinder und fehlende Sauberkeit. Pubertierende Kinder sind aber toll: Sie machen einen enormen Veränderungsschub in ihrem Gehirn durch und setzen sich neu mit dem Leben auseinander. Diese Veränderung und ihre junge, moderne und in Frage stellende Weltsicht sollten wir respektieren.
Und was sollten Mädchen vor dem ersten Sex wissen? YouPorn und Co steht ja allen zur Verfügung und häufig ist das Frauenbild in Pornos alles andere als emanzipiert.
Aufklärung ist enorm wichtig. Gerade deswegen, weil wir Frauen lange Zeit aus einer angemessenen Aufklärung ausgeschossen wurden in Hinblick auf unseren Körper und seine Funktionen, Hormone, Zyklus, Orgasmen etc. Mädchen brauchen eine altersangemessene Aufklärung. Das beginnt im Baby- und Kleinkindalter mit der richtigen Bezeichnung der Intimorgane, der Anerkennung des “Nein” des Kindes als wichtige Aussage, geht weiter in der Vorschulzeit bei altersangemessener Aufklärung woher ein Baby kommt und dann in der Grundschul- und Oberschulzeit mit fortschreitender Aufklärung über Zyklus, Hormone und Sexualität inklusive Verhütungsmöglichkeiten. Wir können unsere Töchter nicht davor bewahren, mit Videos auf YouPorn etc. in Kontakt zu kommen, aber wir können durch gute Aufklärung dem entgegenwirken, dass sie dies als unumstößliche Wahrheit annehmen.
Liebe Susanne, hast Du noch einen ermutigenden letzten Satz für uns? Glaubst Du wir „New Moms“ sind auf einem guten Weg?
Gerade gibt es sehr starke konservative Strömungen im In- und Ausland, die uns aufhorchen lassen sollten und uns ermahnen, uns auf unseren Errungenschaften nicht auszuruhen, sondern sie zu verteidigen und weiter auszubauen. Aber ermutigend ist, dass sich immer mehr Frauen dem zuwenden, für ihre Rechte einzutreten, es viele tolle Bücher und präsente Frauen gibt. Gemeinsam können wir das schaffen mit gegenseitiger Unterstützung und Verschwesterung.
Danke für diese wertvollen Antworten, liebe Susanne, wir bleiben dran am Verschwestern, Verteidigen und Ausbauen.
Susanne Mierau
New Moms for Rebel Girls
Unsere Töchter für ein gleichberechtigtes Leben stärken
Mit Illustrationen von Nadine Roßa
Paperback, ca. 304 Seiten
ISBN: 978-3-407-86712-4
EUR 19,00
Gestützt auf pädagogische und psychologische Erkenntnisse sowie viele Beispiele von Mutter-Tochter-Beziehungen beschreibt Mierau, wie Mädchen konkret unterstützt und bestärkt werden können. Sie erläutert, was Mütter über Themen wie Pornos, Cybermobbing, Verhütung, Selbstwert & Selbstliebe, ein gutes Körpergefühl, Bildung & Karriere und viele weitere wissen müssen und wie sie ihre Töchter dabei begleiten.
Von Sara Buschmann