Gewaltfreie Erziehung ist auch eine politische Aufgabe

Zum Tag der gewaltfreien Erziehung fordert unsere Kolumnistin Anne Dittmann Kinderrechte im Grundgesetz und ein familienfreundlicheres Deutschland

Zum Tag der gewaltfreien Erziehung zitiert Deutschlandfunk Kultur die Kinderbuchautorin Astrid Lindgren mit den Worten: „Es gibt so unfassbar viel Grausamkeit, Gewalt und Unterdrückung auf Erden, und das bleibt den Kindern keineswegs verborgen. Sie sehen und hören und lesen es täglich, und schließlich glauben sie gar, Gewalt sei ein natürlicher Zustand. Müssen wir ihnen dann nicht wenigstens daheim durch unser Beispiel zeigen, dass es eine andere Art zu leben gibt?“. Das Zitat stammt aus einer Rede, die Lindgren 1978 zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels hielt. Und gleichzeitig könnte es sich nicht aktueller anfühlen, genau diese Worte zu lesen. Nur, etwas stört mich doch daran, dass gerade heute nur Lindgren zitiert wird: Es suggeriert, dass die gewaltfreie Erziehung ausschließlich Aufgabe der Eltern wäre. Aber das sollte sie nicht sein.

Lindgren meinte es gut: Natürlich sollten sich Eltern stets daran erinnern, ihren Kindern auf Augenhöhe zu begegnen. Gewaltfreiheit? Über diesen Begriff lässt sich an den richtigen Stellen (!) streiten. Körperliche Gewalt erkennen die meisten Menschen noch. Aber es gibt auch die psychische Dimension: Kinder zu beschämen, zu erniedrigen, zu demotivieren, zu ignorieren, zu vernachlässigen, zu drohen – all das gehört ganz klar dazu.

Gewalt und Grenzen von Gewaltfreiheit

Manche Eltern gehen allerdings so weit, dass sie niemals über den Kopf des Kindes hinweg bestimmen, schon die alltägliche elterliche Führungsrolle als Gewalt betrachten. Sie diskutieren mit ihren Kindern die Notwendigkeit des Zähneputzens, den Fernsehkonsum oder ob es nun wirklich Zeit ist, den Spielplatz zu verlassen. Das sind Dimensionen, die beispielsweise Eltern aus der sogenannten Unerzogen-Bewegung abwägen und bei denen ich nicht mehr mitgehe. Ich setze meinem Kind je nach Kontext einen bestimmten Rahmen, in dem ich ihn liebevoll begleite und leite.

Gewalt gegen Kinder kann bereits dort beginnen, wo kindliche Grundbedürfnisse wie Respekt, Sicherheit, körperliche Unversehrtheit und emotionale und soziale Unterstützung nicht erfüllt werden. Sie kann beginnen, wenn Erwachsene Kinder nicht als eigenständige Persönlichkeiten respektieren, sondern Macht über sie ausüben oder sie kontrollieren wollen. So wird den Kindern schnell ein Gefühl von Ohnmacht, Wertlosigkeit, Angst und Abhängigkeit vermittelt.“ – Unicef

Warum Eltern an den Rechten des Kindes scheitern

Genauso wie ich haben viele andere Eltern auch den Anspruch, die Rechte ihrer Kinder auf eine gewaltfreie Erziehung zu wahren. Und trotzdem sind die meisten von uns schon mal gescheitert: Sie haben das Kind dann doch geschüttelt, einen Klaps auf den Po gegeben, angebrüllt, vielleicht sogar geschlagen. Und danach haben sie sich vielleicht entschuldigt und sich geschworen, das nie wieder zu tun. Gewalt betrifft eben auch ganz normale Eltern. Eltern, die sich zum Thema selbst klare Grenzen setzen und im Alltag liebevoll und kümmernd sind. Auch sie können gewalttätig werden, trotz besserer Absichten. Häufig aus einem bestimmten Grund: Sie sind überlastet.

Im Jahr 2020 haben die Gewaltfälle gegenüber Kindern laut Bundeskriminalamt deutlich zugenommen. Damals gab es die ersten Lockdowns und den Aufschrei der #CoronaEltern. Wie viele Kinder aufgrund der hohen Belastung vernachlässigt wurden – auch eine Form von Gewalt – wurde nicht erfasst. Am Ende des Jahres hieß es von Seiten der ehemaligen Regierung, dass Kitas und Schulen offen bleiben müssen, um Kinder zu schützen und ihre Eltern zu entlasten. Wir müssen also durchaus anerkennen, dass eine gewaltfreie Erziehung auch Aufgabe eines Staates sein muss. Eltern können sich noch so hohe Ansprüche setzen – sie werden scheitern, wenn sie in einer Gesellschaft leben, in der sie zu stark belastet werden. Familien brauchen eine Gesellschaft, in der Fürsorge geschützt wird und ein Grundrecht darstellt. Denn die Pandemie hat gezeigt, dass Gewalt auch dort entstehen kann, wo Fürsorge keinen Platz mehr hat.

Dass Gewaltfreiheit auch eine politische Aufgabe ist, sehen wir ebenfalls bei Kindern mit Behinderungen: Kinder, die motorisch eingeschränkt sich, autistische Kinder, Kinder mit ADHS leiden oft an ableistischen Erziehungmethoden, an fehlendem Verständnis von Lehrer*innen und Erzieher*innen. Es kann, insbesondere in Kindergärten und Schulen keine gewaltfreie Erziehung geben, solange wir nicht Inklusion vorantreiben. Und solange Eltern Diagnosen wie ADHS oder Autismus fürchten, gilt das gleiche.

Ganz klar gibt es Eltern, die ihre Gewaltausbrüche und ihren Umgang mit Emotionen überdenken sollten, die sich unbedingt professionelle Hilfe holen sollten. Weil das der einzige verantwortungsvolle Weg ist, wenn man ein Kind hat. Aber gleichzeitig braucht es auch staatliche Institutionen, die Familien in richtigem Maße unterstützen. Indem sie nicht jedes Kind in Obhut nehmen, nur weil eine gestresste Mutter nach einer Haushaltshilfe fragt – das schlechte Image mancher Jugendämter hemmt Eltern sich Hilfe zu holen. Aber ganz klar müssen diese Institutionen wiederum Kinder frühzeitig schützen, wenn diese beispielsweise sagen, dass sie nicht bei einem Elternteil leben wollen.

Ich würde mir an einem Tag wie diesem wünschen, dass Eltern mehr bekommen als ein Zitat von Astrid Lindgren. Dass das Bundesfamilienministerium und die neue Ministerin Lisa Paus das Thema zumindest auch als eigene, staatliche Aufgabe würdigen. Dass sie sich zur Aufgabe machen, Eltern noch viel deutlicher zu entlasten, damit Kinder in entspannten Familien aufwachsen können. Dass wir wieder über Kinderrechte im Grundgesetz sprechen. Was passiert stattdessen? Die Webseite des Familienministeriums ist nicht aufrufbar und die Kindergrundsicherung wurde dieses Jahr offiziell hinten angestellt. Aber dafür soll das Kindergeld um 20 Euro angehoben werden und der Kinderzuschlag um 209 Euro. Ich fürchte, das ist nicht genug.

Von Anne Dittmann

Porträt von SOLOMÜTTER Kolumnistin Anne Dittmann