Alles 110%? Warum es sich lohnt, als Alleinerziehende Dinge unperfekt zu machen!

Fünf Minuten, bevor wir los zur Kita gehen: Ein dicker Marmeladenfleck ziert auf einmal das T-Shirt meines Sohnes. Ihn jetzt mit rotem Klecks in den Kindergarten schicken? Ich entscheide mich, ihm ein neues T-Shirt anzuziehen. Obwohl das bedeutet, dass wir danach auf dem Weg zur Kita rennen müssen und er protestiert, weil er nicht einsieht, warum er sich noch einmal umziehen soll. Warum bestehe ich dennoch darauf? Warum ist mir so wichtig, dass er „ordentlich gekleidet“ in die Kita geht?

Perfektionismus – ein Thema, das uns als Alleinerziehenden immer wieder begegnet. Sei es, dass wir für unsere Kinder „nur das Beste“ wollen, nach außen einen möglichst unabhängigen und kompetenten Eindruck machen oder im Beruf glänzen wollen (obwohl wir auch privat massiv gefordert sind) – perfektionistisches Verhalten hat viele Facetten.

Spannend finde ich, dass Psychologin Caroline Uhl, die sich auf psychologische Beratung und Coaching für alleinerziehende Mütter spezialisiert hat, unterscheidet zwischen Gewissenhaftigkeit als Persönlichkeitsmerkmal und Perfektionismus im pathologischen Sinn. Und dass sie betont, dass Perfektionismus auch eine Art Schutz- oder Kompentationsstrategie sein kann, mit der wir tiefer liegenden Ängsten oder Bedenken begegnen. So zum Beispiel der Angst, als Alleinerziehende*r mit unseren Kindern als Familie nicht zu genügen oder alleine den Alltag nicht bewältigen zu können. Das mag erklären, warum es oft gar nicht so leicht ist, „einfach mal fünf gerade sein zu lassen“, den Alltag „locker“ zu sehen und „sich nicht so einen Kopf zu machen“. 

Dazu kommt, dass wir als Alleinerziehende tatsächlich häufig darauf angewiesen sind, alles selbst im Griff zu haben. Wer außer uns behält Termine unserer Kinder, berufliche und private Absprachen, die Organisation von Haushalt, Job und Kinderbetreuung im Blick? Was, wenn wir „schwächeln“, den Überblick verlieren oder – krankheitsbedingt – ganz ausfallen? Ein nur zu verständliches Bedürfnis nach Schutz und Sicherheit sowie der Wunsch, für unsere Kinder ein gutes Leben zu gestalten, kann also hinter unserem Verhalten stehen: Indem wir Listen schreiben, uns gedanklich auf alle Eventualitäten vorbereiten und jede Aufgabe 110-prozentig zu erledigen versuchen. 

Der Vorteil: Im besten Fall bekommen wir unser Leben dadurch tatsächlich gut organisiert. Trotz der zahlreichen Herausforderungen, die es als Alleinerziehende mit sich bringt. Wir sind beruflich erfolgreich, unsere Kinder entwickeln sich gut, bestenfalls finden wir verbindliche Regelungen, wie wir auch mit Ex-Partner*innen noch in konstruktiver Weise gemeinsam Eltern sein können.

Wenn es dumm läuft, kostet uns all diese Organisation und die stetige Anstrengung, es „richtig“ zu machen, aber buchstäblich den Schlaf. „Wenn du über längere Zeit nicht mehr gut ein- oder durchschlafen kannst, ist das ein Warnsignal“, so Caroline Uhl: „Ebenso, wenn du Dinge gedanklich nicht mehr loslassen kannst, dauerhaft darüber nachgrübelst, ob du Entscheidungen nicht „richtiger“ oder „besser“ hättest treffen können. Das sind Momente, in denen das an sich positive Persönlichkeitsmerkmal der Gewissenhaftigkeit umschlagen kann in ein Verhalten, das dir selbst nicht mehr gut tut, bis hin zur Zwanghaftigkeit. Alles 110-prozentig machen zu wollen, kann dich massiv überfordern – und meist merkst du das zuerst über körperliche Signale.“

Was aber tun, wenn du unter deinem Perfektionismus im Alltag zu leiden beginnst? Eine ganz praktische Übung kann sein, so Caroline Uhl, sich mehrmals am Tag, zum Beispiel auf dem Handy, den Wecker zu stellen und kurz innezuhalten. „Dabei kannst du dich fragen: Für wen mache ich das hier eigentlich gerade? Für mich, oder für andere? Und: Wer profitiert wirklich davon?“ 

Die Antwort darauf kann gerade für Menschen, die perfektionistisch veranlagt sind, verblüffend sein: Die aufwendige Geburtstagstorte, das sorgfältig organisierte Familienwochenende, die gebügelten Hemden – mache ich das tatsächlich für mich oder mein Kind? Oder weil ich denke, es „gehört“ sich so oder andere beurteilen mich dadurch positiver? 

Die Angst vor dem Urteil anderer kennen tatsächlich viele Alleinerziehende – auch wenn wir sie manchmal durch (scheinbar) selbstsicheres Verhalten kompensieren. Zwar ist alleinerziehend zu sein als Familienstatus gesellschaftlich nicht mehr geächtet, wie vielleicht noch vor vierzig oder fünfzig Jahren, aber Glaubenssätze wie „Nur Mama, Papa, Kind sind eine richtige Familie“ oder „Sich zu trennen, bedeutet Scheitern“ sind doch oft tiefer in uns verankert, als wir es womöglich wahrhaben wollen. Und natürlich lässt sich nicht leugnen, dass Kinder von Alleinerziehenden tatsächlich von Armut bedroht sein können und gegebenenfalls über schlechtere soziale Ausgangsbedingungen verfügen. Dazu kommt, dass wir als Frauen ohnehin darauf sozialisiert sind, Dinge möglichst „gut“, ordentlich und gewissenhaft zu erfüllen.

Leicht führt diese Mischung aus (noch) verinnerlichten Stereotypen, realer Belastung und Sozialisation als Frau dazu, dass wir als Alleinerziehende unser Leben besonders gut meistern wollen – und uns dabei eben besonders viel Druck machen.

Das alles zu erkennen, kann ein erster Schritt sein, um alltäglichen Perfektionismus los zu werden und sich nicht dauerhaft zu überlasten. Wichtig ist dabei, nicht in die nächste Falle zu tappen: Gerade für perfektionistisch veranlagte Menschen sieht Psychologin Caroline Uhl in manch einem Coaching-Angebot, das eine noch effizientere Alltagsorganisation oder die Behebung persönlicher Schwächen verspricht, die Gefahr, das Muster der Selbstoptimierung eher zu verstärken und das eigentliche Problem aus den Augen zu verlieren: Dass nämlich übermäßig gewissenhaftes Verhalten oft eine Kompensationsstrategie darstellt. Sich die dahinter liegenden Motive anzusehen ist häufig ein schwieriger Prozess, für den Caroline Uhl klar psychologische Begleitung empfiehlt.

Mit dem Vorsatz „einfach lockerer zu werden“ ist es also meist nicht getan, wenn wir Perfektionismus im Alltag loswerden wollen. Viel sinnvoller kann es sein, dass wir nach dem „Nutzen“ fragen, den er aktuell (noch) für uns hat – und uns behutsam den dahinter liegenden Ängsten und Glaubenssätzen zuwenden. 

Und natürlich macht es Sinn, dass wir das dahinter liegende Bedürfnis nach Schutz oder auch Anerkennung ernst nehmen. Außer mit Perfektionismus können wir diesem entsprechen, indem wir uns nach und nach einen stabilen Freundeskreis aufbauen, uns unterstützende Netzwerke schaffen und immer wieder anhand der Realität – zum Beispiel im Gespräch mit guten Freund*innen – überprüfen, ob unsere Anstrengung wirklich nötig ist. Auch der Blick auf alles, was bereits gut läuft, beispielsweise in Form eines Bestärkungs- und Dankbarkeitstagebuchs, in das wir jeden Abend zwei bis drei Dinge notieren, die an diesem Tag gut gelaufen sind, kann hilfreich sein. Oft liegt, was wir als Erwartung oder auch Kritik von außen wahrnehmen, tatsächlich ja eher in uns selbst. Hier ein Gegengewicht in Form von Bestärkung, aber auch konkreter Alltagsentlastung, zu schaffen, kann helfen, die innere Antreiberin allmählich zum Verstummen zu bringen. 

Abgesehen davon kann es uns natürlich dennoch wichtig sein, dass unser Kind mit sauberen Kleidern in die Kita geht, oder wir haben vielleicht sogar Spaß daran, den perfekten Geburtstagskuchen backen. Alles gut, sagt Psychologin Caroline Uhl: Solange wir es für uns selbst und mit Freude machen! Ist das nicht mehr der Fall, lohnt es sich, genauer hinzusehen.

Wer ist die Expertin?

Caroline Uhl ist selbständige Psychologin und zertifizierte Coachin. Sie berät vor allem Alleinerziehende dabei, persönliche Bedürfnisse und Wünsche mit dem Muttersein in Einklang zu bringen. In ihrer Arbeit bedient sie sich eines systemischen sowie personenzentrierten Ansatzes. 2022 erschien ihr Buch „Wer bin ich, wenn ich nicht alleinerziehend bin?“ Caroline lebt mit ihrem Sohn in Köln. www.caroline-uhl.com, Instagram @psychologin_caro.

Wer schreibt?

Sarah Zöllner ist Journalistin, Bloggerin und Autorin für Familien- und Gesellschaftsthemen. Sie hat zwei Söhne im Kindergarten- und Grundschulalter. 2020 erschien ihr Buch „Alleinerziehend – und nun?“ Ihr zweites Buch „Mütter. Macht. Politik: Ein Aufruf!“ ist am 1.9.2023 im Magas-Verlag erschienen. www.sarahzoellner.com.

Von Sarah Zöllner