Kindergrundsicherung: Weichen jetzt richtig stellen!

Die Regierung plant die Umsetzung einer Kindergrundsicherung. Dieser Gesetzentwurf ist ein erster wichtiger Schritt zur Entlastung von Familien. 

Doch um Kinder- und Jugendarmut wirksam zu vermeiden, sollte der Entwurf verbessert werden – das findet zumindest die Bertelsmann Stiftung. Unsere Gründerin Sara Buschmann hat mit Antje Funcke und Sarah Menne zu den Details gesprochen.


SOLOMÜTTER: Liebe Antje, liebe Sarah, ihr begrüßt ja grundsätzlich die Einführung einer Kindergrundsicherung mit dem Ziel Kinder- und Jugendarmut zu bekämpfen. Nun liegt der Gesetzentwurf vor. Warum seid ihr von den Lösungsansätzen dieses Entwurfes im Hinblick auf die Zielsetzung enttäuscht?

Antje: In Deutschland sind 3 Millionen Kinder und Jugendliche armutsgefährdet – diese Zahl ist seit Jahren auf ähnlich hohem Niveau. Wir brauchen dringend einen Systemwechsel in der Politik und kein „Weiter so“ oder kleine Reformen. Daher ist es gut, mit der Kindergrundsicherung einen ersten Schritt hin zu einem solchen Systemwechsel zu gehen und endlich allen Kindern und Jugendlichen – auch denen, deren Eltern Bürgergeld beziehen – eine einheitliche, einkommensabhängige Leistung zu gewährleisten. 

Sarah: Leider wissen wir aber auch aus der Forschung, dass die bisherige Höhe der Sozialleistungen für Kinder und Jugendliche deren Bedarfe nicht abdeckt. Und genau hier geht der Entwurf nicht ran. Das ursprünglich formulierte Ziel, die existenzsichernden Leistungen für Kinder wirklich neu zu bestimmen, wird klar nicht eingelöst. Dadurch werden Kinder weiter von Teilhabe ausgeschlossen bleiben. Hier muss in unseren Augen dringend nachgebessert werden. 

SOLOMÜTTER: Wie kommen Alleinerziehende und ihre Familien beim neuen Gesetz weg? Finden ihre Belange Gehör?

Sarah: Alleinerziehende sind die am häufigsten von Armut betroffene Familienform. Will man Kinderarmut vermeiden, so ist diese Gruppe besonders in den Blick zu nehmen. Das gelingt mit dem Gesetzentwurf leider noch nicht. Positiv ist, dass Unterhaltszahlungen und Unterhaltsvorschuss nur zu 45 Prozent auf die Kindergrundsicherung angerechnet werden – so wie bislang beim Kinderzuschlag. Das bedeutet für Alleinerziehende im Bürgergeldbezug eine echte, nennenswerte Verbesserung. Denn bislang wurde ihnen der Unterhaltsvorschuss komplett auf die Leistungen für ihre Kinder angerechnet.

Antje: Diese Verbesserung kommt jedoch aufgrund von Ausnahmeregelungen im Gesetz nicht bei allen Ein-Eltern-Familien an. Zudem sollen die Regelungen der sog. „temporären Bedarfsgemeinschaft“, die bisher im Bürgergeldbezug gelten, auch für die Kindergrundsicherung übernommen werden. Auch das könnte sogar zu Schlechterstellungen für einige Alleinerziehende und ihre Kinder führen.

Welche Punkte, die Ein-Eltern-Familien betreffen, kritisiert ihr im Detail?

Sarah: Das sind insbesondere drei Dinge:

  1. Unterhaltszahlungen sollen laut Entwurf in Abhängigkeit von ihrer Höhe gestaffelt von 45 bis 75 Prozent angerechnet werden. Diese Staffelungen sollten entfallen und die Anrechnungsrate auf 40 Prozent reduziert werden. Die gestaffelten Anrechnungsraten sind komplex und teilweise gar nicht wirksam. Sie stellen einige Alleinerziehende und ihre Kinder schlechter als bislang und führen mitunter dazu, dass mehr Arbeit für sie am Ende zu weniger Einkommen führen kann aufgrund hoher Transferentzugsraten.


  2. Unterhaltsvorschuss soll es dem Entwurf folgend für Kinder ab dem Schuleintritt in künftig nur noch dann geben, wenn ihr alleinerziehendes Elternteil mindestens 600 Euro im Monat verdient. Diese Regelung muss zurückgenommen werden. Erstens brauchen alleinerziehende Elternteile – meistens sind es Mütter – keine Erwerbsanreize: Drei von vier alleinerziehenden Müttern sind erwerbstätig; sie arbeiten häufiger in Vollzeit als Mütter in Paarfamilien. Was sie brauchen, sind verlässliche und gute Betreuungseinrichtungen für ihre Kinder und Rahmenbedingungen, die eine faire Aufteilung sowie Vereinbarkeit von Fürsorge- und Erwerbsarbeit zwischen Müttern und Vätern ermöglichen. Zweitens führt die Regelung zu einer Ungleichbehandlung von älteren Kindern in Abhängigkeit von der Erwerbstätigkeit des betreuenden Elternteils, die aus einer kinder- und verfassungsrechtlichen Sicht sehr bedenklich ist.


  3. Das Konzept der temporären Bedarfsgemeinschaft darf nicht auf die Kindergrundsicherung übertragen werden. Nach diesem Konzept werden derzeit Bürgergeldleistungen für Kinder zwischen den Elternteilen je nach ihrem Betreuungsanteil aufgeteilt, wenn beide Eltern bedürftig sind. Würde dies auf die Kindergrundsicherung übertragen, so würde die Unterdeckung von Bedarfen von Kindern und Jugendlichen in getrennten Familien weiter verstärkt. Zudem wären alleinerziehende Familien schlechter gestellt, die heute Kinderzuschlag beziehen. Notwendig wäre vielmehr, die Mehrbedarfe von Kindern in getrennt lebenden Familien endlich empirisch zu erheben und im Rahmen der Kindergrundsicherung zu decken.

SOLOMÜTTER: In welchen Punkten muss also dringend nachgebessert werden? Was sind eure Forderungen?

Antje: Uns fehlt vor allem, dass die im Koalitionsvertrag getroffene Vereinbarung, das kindliche Existenzminimum neu zu bestimmen, nicht eingelöst wird. Um tatsächlich Teilhabe und Chancen zu eröffnen, muss eine solche Existenzsicherung auf den tatsächlichen Bedarfen von Kindern und Jugendlichen fußen. Daher sollte im Gesetz perspektivisch eine solche Neubestimmung der existenzsichernden Leistungen für Kinder und Jugendliche angelegt werden, an der Kinder und Jugendliche selbst beteiligt werden. 

Besonders offensichtlich wird die Diskrepanz zwischen gewährten Leistungen und der Realität von Kindheit und Jugend heute beim Bildungs- und Teilhabebetrag. Mit einer Höhe von 15 Euro im Monat ist er realitätsfremd und nachweislich zu gering; zudem gibt es für diese 15 Euro keine empirische Basis. Das muss dringend geändert werden, in dem Kinder und Jugendliche auch zu diesem Teil ihres Lebens selbst befragt werden. Zudem sollte die für den Bildungs- und Teilhabebetrag vorgesehene Nachweispflicht entfallen, um bürokratischen Aufwand und Verwaltungskosten zu verringern.

Sarah: Wir kritisieren auch, dass Kinder und Jugendliche, die bislang unter das Asylbewerberleistungsgesetz fallen, keinen Anspruch auf Kindergrundsicherung haben sollen. Alle Kinder und Jugendlichen in Deutschland haben laut UN-Kinderrechtskonvention ein Recht auf gutes, gesundes Aufwachsen und soziale Teilhabe. Daher müssen auch Kinder und Jugendliche die Kindergrundsicherung bekommen, auch wenn sie noch keinen sicheren Aufenthaltsstatus haben. Bleiben sie außen vor, so schließt man sie von wichtigen Bildungs- und Teilhabemöglichkeiten aus und untergräbt Integrationsbemühungen.

Und schließlich ist uns wichtig, dass die Kindergrundsicherung wie im Gesetzesentwurf vorgesehen, bei den Familienservicestellen angesiedelt wird und nicht bei den Jobcentern. Jobcenter sind nicht der richtige Ort für Kinder und Jugendliche, da ihre Kernaufgabe die Arbeitsmarktintegration von Erwachsenen ist. Perspektivisch sollten die Familienservicestellen nicht nur die Kindergrundsicherung verwalten, sondern zu niedrigschwelligen Anlaufstellen ausgebaut werden, in denen Familien Hilfen aus einer Hand erhalten. 

Ich danke euch beiden für das Gespräch. Und auch Danke für diese wichtigen Infos und euren unermüdlichen Einsatz gegen Kinderarmut. Auch wir SOLOMÜTTER hoffen inständig, dass die Politik in diesen essentiellen Punkten nachbessert.

Die Expertinnen

Von Sara Buschmann

Antje Funcke
Senior Expert Familie und Bildung,
Bertelsmann Stiftung

Sarah Menne
Senior Project Manager,
Bertelsmann Stiftung