Interview mit Michelle Franco

Im Koalitionsvertrag wurde eine Kindergrundsicherung zugesagt. Nur wo bleibt die Umsetzung dieses Versprechens?

Das fragen sich nicht nur die 43 % Alleinerziehenden, die von akuter Einkommensarmut betroffen sind, sondern auch viele weitere Familien, bei denen das Geld knapp ist.

Im Jahr 2022 waren rund 2,2 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren armutsgefährdet. Das ist zu viel und „ein Armutszeugnis“ für unser Land, findet Michelle Franco. Die junge Frau hat eine Petition für die Kindergrundsicherung gestartet, mit der sie Aufrütteln will. Und Michelle weiß, dass das funktionieren kann. Wir haben mit ihr über Beweggründe und Ziele gesprochen.

Liebe Michelle, bei Instagram beschreibst du dich als „Petitionsstarterin“. Welcher Mensch und welche Biografie stecken hinter deiner Person?

Ich bin 29 Jahre alt, komme aus Karlsruhe und beende aktuell mein Studium der Rechtswissenschaften. Außerdem bin ich seit Anfang 2021 Mutter einer Tochter. Vor meiner Elternzeit war ich beruflich in der öffentlichen Verwaltung tätig.
 
Stoppt Lindners Blockade der Kindergrundsicherung“ ist nicht deine erste Petition. Womit hast du dein Engagement rund um Stimmen aus der Bevölkerung begonnen? 
Im November letzten Jahres habe ich eine Petition gestartet, um die Streichung der Hebammen aus dem Pflegebudget zu verhindern. Innerhalb von zwei Wochen habe ich unglaubliche 1,6 Mio. Unterschriften auf change.org gesammelt und erreicht, dass das Gesetz geändert und die Streichung der Hebammen aus dem Pflegebudget erfolgreich abgewendet wurde. 
 
Warum jetzt die neue Petition?
Durch meine erste Petition habe ich gelernt, dass man auch als Privatperson einen positiven Beitrag zur Politik leisten kann. Leider werden Kinder und Eltern viel zu oft nicht ausreichend gesehen, da keine Lobby dahintersteht. Kinder haben keine politische Stimme. Daher finde ich es umso wichtiger mich für sie stark zu machen. 
 
Erkläre doch bitte einmal, warum die Kindergrundsicherung so wichtig ist?
Die Kindergrundsicherung soll das bisherige Kindergeld ersetzen, damit die Leistung bei allen Kindern gleichermaßen ankommt. Die Kindergrundsicherung würde dabei nicht auf andere Leistungen angerechnet werden. Zusätzlich sollen Kinder, deren Eltern unter eine bestimmte Einkommensgrenze fallen, einen individuellen Aufstockungsbeitrag erhalten. Damit soll mitunter die Kinderarmut in Deutschland effektiv bekämpft werden. 
 
Christian Linder sagt, es sei schon viel passiert. Warum ist das, was getan wurde, zu wenig? Und wer wird durch das aktuelle System vernachlässigt?
Durch das aktuelle System werden insbesondere Alleinerziehende und Familien, die Sozialleistungen beziehen, benachteiligt. Denn Kindergeld wird, anders als die geplante Kindergrundsicherung, auf Unterhaltsvorschüsse und Sozialleistungen wie Bürgergeld angerechnet. Damit kommt das Geld nicht bei den Personengruppen an, die es am nötigsten brauchen. Herr Lindner verweist in seiner Argumentation auf die Erhöhung des Kindergelds in den letzten Jahren. Durch die Anrechnung des Kindergelds auf andere Leistungen (wie beispielsweise den Unterhaltsvorschuss) haben allerdings insbesondere Alleinerziehende nichts von der Erhöhung gespürt.
 
Du hast ja auch einen Etat-Vergleich gezogen und andere Bereiche gefunden, bei denen unser Finanzminister eher spendabel scheint. Wofür gibt Christian Lindner denn lieber Geld aus als für Kinder?
Der Staat gibt pro Jahr Steuervergünstigungen für Kerosin und Diesel von jeweils mehr als 8 Mrd. Euro aus. Auch die Dienstwagenpauschale wird von Herrn Lindner mit circa 3-5 Mrd. Euro pro Jahr finanziert. Als es um Mehrausgaben für die Bundeswehr ging, waren 100 Mrd. Euro möglich. Nur wenn es um die Kindergrundsicherung und damit die Bekämpfung von Kinderarmut geht, möchte der Finanzminister keine 12 Mrd. Euro in die Hand nehmen. Er hat stattdessen bisher nur 2 Mrd. Euro im Etat vorgesehen. 
 
Da ist wirklich noch Handlungsbedarf. Deine Petition hat mittlerweile rund 190.000 Unterschriften. Werden noch mehr gebraucht?
Petitionen über Plattformen wie change.org bewirken aufgrund des öffentlichen Drucks etwas. Je mehr Stimmen zusammen kommen, umso größer wird der Druck auf die Regierung. Aktuell ist der öffentliche Druck meines Erachtens noch nicht groß genug.
 
Wir sind gerade dabei ein starkes Bündnis von Aktivistinnen gegen Kinderarmut und für eine bessere Familienpolitik zu bilden. Im besten Fall sind wir natürlich mit unseren Forderungen erfolgreich, aber selbst wenn die Dinge nicht so laufen sollten wie wir es uns erhoffen, werden wir natürlich weiterhin gemeinsam gegen Kinderarmut und für die Rechte von Familien kämpfen. Die Strukturen die wir jetzt schaffen, sind hier um zu bleiben.
 
Wie erklärst du dir denn, dass die Petition zur Kindergrundsicherung so viel weniger Unterstützer*innen hat, als die Petition gegen die Streichung der Hebammen aus dem Pflegebudget?
Einerseits wurde die Hebammenpetition von vielen großen Influencer-Accounts geteilt und hat dadurch in kürzester Zeit viel Aufmerksamkeit bekommen. Auf der anderen Seite kann jede Frau, die bereits ein Kind zur Welt gebracht hat, nachvollziehen, wie unverzichtbar eine Hebamme ist. Bei der Geburt ist jede Gebärende auf eine Hebamme angewiesen, egal aus welcher sozialen Schicht sie kommt. Beim Thema Kindergrundsicherung fühlen sich viele nicht angesprochen, die aktuell nicht vom System benachteiligt werden.
 
Dabei kenne ich aus eigener Erfahrung, dass Armut oft nur eine Trennung weit entfernt liegt – aber das möchten viele eben nicht wahrhaben. Wir drücken fest die Daumen, dass diese wichtige Stimme trotzdem gehört wird und danke allen Supporter*innen! Im September ist ja in Berlin eine Demo geplant. Bist du da auch involviert?
Ja, zusammen mit anderen Petentinnen starten wir am 20. September eine Familienkette in Berlin. Wir möchten am Weltkindertag mit der Aktion auf unsere Forderungen an die Familienpolitik aufmerksam machen. Die Demo startet um 16:30 Uhr vor dem Familienministerium in der Glinkastraße 35. Wir freuen uns auf alle Teilnehmer*nnen, die uns bei der Menschenkette unterstützen. Auf dem Instagram-Account @familie_sind_alle finden alle Interessierten weitere Infos.
 
Hast du Wegbegleiter:innen bei deinen Projekten? 
Im Hintergrund werde ich von einem tollen Team von change.org unterstützt. Sie helfen mir insbesondere mit der Petitionsarbeit, die sehr umfangreich sein kann. Außerdem unterstützen mich auch meine Familie und Freunde, wo sie nur können, dafür bin ich sehr dankbar.
 
Mit welchem Gefühl betrachtest du die aktuelle Situation? Ist es Aufbruchstimmung, Hoffnungslosigkeit, Ohnmacht? Oder etwas ganz anderes?
Ich habe natürlich gemischte Gefühle: Der momentane Sparkurs betrifft ja nicht nur Familien, sondern hat Auswirkungen auf die ganze Gesellschaft. Gerade auch, dass so wichtige Themen wie Kinderarmut kaum Raum in der gesellschaftlichen Debatte einnehmen – damit habe ich natürlich ein mulmiges Gefühl. Andererseits gibt mir die Zivilgesellschaft große Hoffnung. Meine Petition ist ja nur eine von vielen und wir Aktivistinnen und Petentinnen kommen jetzt zusammen, um für unsere Anliegen einzustehen. Ich glaube wirklich, dass wir etwas bewegen können, zumindest in der Familienpolitik. Mit dabei sind u.a. Sandra Maria Runge, die mit #proparents dafür kämpft, dass Fürsorgeverantwortung als ein neues Diskriminierungsmerkmal in das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz aufgenommen wird, um Eltern und andere Fürsorgeleistende vor Diskriminierungen in der Arbeitswelt zu schützen oder Delia Keller, die eine Petition zum Thema Kindergeld für alle gestartet hat. Delia möchte, dass dem Unterhaltsvorschuss bei Kindern von Alleinerziehenden nicht das komplette Kindergeld abgezogen wird. (Anmerkung der Redaktion: Hier geht es zum SOLOMÜTTER-Interview mit Delia.)
 
Und gibst du uns einen kleinen Ausblick? Was passiert als Nächstes? Hast du schon eine neue Petition im Hinterkopf?
Ende August soll der Gesetzesentwurf zur Kindergrundsicherung in den Bundestag eingebracht werden. Ich bin gespannt wie die Debatte sich dann weiterentwickelt. Bisher habe ich noch keine Pläne für eine neue Petition. Mein aktueller Fokus liegt auf unserer geplanten Familienkette am 20.09. in Berlin. Ich freue mich darauf mit anderen engagierten Müttern ein Netzwerk zu knüpfen: damit wir uns in Zukunft gemeinsam für unsere Forderungen in der Politik einsetzen können. Denn die Erfahrung hat gezeigt, dass wir zusammen als Gesellschaft etwas bewirken können.
 
Danke, Michelle, wir sind sehr froh über dein wichtiges Engagement. Und hier auch noch mal die bitte an unsere Community: Supportet die Petition von Michelle und teilt diese mit eurem Netzwerk. Wir sind viele!

Die Abbildung eines blinkenden Blitzes

Um das Thema Kindergrundsicherung nun auch offiziell in den Bundestag zu tragen und dort auf eine Bearbeitung zu drängen, wurde nun eine weitere offizielle Petition direkt auf der Seite der Bundesregierung gestartet. Bitte zeichnet insbesondere auch diese. Leider ist das Vorgehen etwas aufwändiger, weil eine Registrierung notwendig ist – aber, die Mühe lohnt sich!

Von Sara Buschmann