Anti-Girlboss – Interview mit Nadia Shehadeh

Lebensziel „Girlboss“? Frauen wird heute oft vermittelt, dass sie alles haben können: Kinder, eine erfüllte Beziehung, eine erfolgreiche Karriere, einen perfekt trainierten Körper und aufregende Hobbys. Instagram & Co. verstärken diesen „You-can-have-it-all“-Eindruck. Dieses Narrativ hat jedoch auch eine toxische Seite. Es verlangt von uns, immer mehr zu leisten, anstatt die strukturellen Ungerechtigkeiten des Systems in Frage zu stellen.

Die Autorin Nadia Shehadeh hat ein Manifest gegen dieses „Höher, Schneller, Weiter“ verfasst. Ihr Buch „Anti-Girlboss“ ist ein Plädoyer für den Müßiggang, für Prokrastination und Losertum. Kann man das so sagen, liebe Nadia?

Ich würde sagen: Unter anderem! Wobei ich nicht sagen will, dass damit allein das Gegenstück zum Girlboss-Mindset kreiert wird. Ich bin absolut für das Ausruhen, das Nickerchen zwischendurch und fürs faul sein – aber ich will auch nicht die Idee befeuern, dass nur Girlbosse fleißig sind und alle anderen nicht. Das stimmt nämlich auch nicht, und damit würde ich ja den Girlboss-Ideen, dass Erfolg, Karriere und ein gutes Auskommen eine rein individuelle Entscheidung ist, zustimmen. Es gibt so viele, die unfassbar hart arbeiten, und trotzdem keinen sorglosen Girlboss-Lifestyle haben – schon gar nicht finanziell. Gerade auch alleinerziehende Frauen! Und die Arbeit hört ja nicht dort auf, wo man ein Leben ohne ominöse „Karriere“ führt. Schlecht bezahlte Arbeiten, die anstrengend sind, Care-Arbeit und Mental-Load und dazu noch die Versuchung, ständig noch an sich selbst zu arbeiten, lauern ja trotzdem überall.

Ich lese eigentlich immer, dass mit harter Arbeit und dem richtigen Mindset „alles möglich“ sei. Muss man solche Chancen dann nicht auch ergreifen oder siehst du das anders?

Damit ist ja gemeint, dass das gute und sorglose Leben, in dem man finanziell abgesichert ist, einen guten und spannenden und angenehmen und vielleicht sogar gesundheitserhaltenden Job hat, für jede_n erreichbar ist, wenn man nur genug dafür tun will – und dass alle gleichermaßen Zugang zu der Chance, das zu erreichen, haben. Wir haben aber in unserer Gesellschaft immer noch keine Chancengleichheit – das sagt die Empirie sehr genau. Dennoch wird allen eingetrichert, dass individueller Ehrgeiz der Schlüssel zum Glück ist, und gesellschaftliche Ungleichheitsstrukturen sehr einfach überwunden werden können – wenn man sich nur genug anstrengt. Und das ist natürlich ein Mythos, der auf perfide Art vortäuscht, dass eigentlich alle dieselben Möglichkeiten haben – mit dem Ergebnis, dass zu immer mehr bezahlter und unbezahlter Arbeit angetrieben, Armut de-thematisiert und fehlende Teilhabemöglichkeit als individuelles Verschulden begriffen wird.

Dein im Buch enthülltes, persönliches Lebensmott0 finde ich super spannend: Keine Kinder und keine Karriere. Woher kommt dieser Wunsch?

Ich glaube dieses Motto entspringt weniger meinen persönlichen Wünschen, sondern es ist auch die Summe biographischer Entwicklungen, von denen ich einige beeinflussen konnte und einige nicht. Gegen Kinder habe ich mich irgendwann bewusst entschieden, weil ich in meinem Leben schon sehr oft und auch schon sehr jung diverse Mutterrollen ausgeführt habe – und mich immer schon gefragt habe, was für Powerkräfte Menschen haben müssen, die tatsächlich Kinder in diese Welt setzen. Als ich das Buch geschrieben habe, habe ich sehr viel über Mütter nachgedacht: Schließlich ist es ja schon frech, dass ich, die ich ja erwiesenermaßen allein aufgrund meiner Kinderlosigkeit sehr viel Zeit habe, mit meinem Plädoyer, dass das chillige Leben eigentlich widerständig ist, um die Ecke komme. Umso mehr freut es mich, dass viele sich trotzdem abgeholt fühlen von meiner Botschaft. Und ich glaube, das liegt auch daran, dass viele sich damit identifizieren können, dass vieles im Leben – und eben auch das berufliche Dasein – nicht nur an unsere individuellen Wünsche gekoppelt ist, sondern an das, was machbar ist.

Deine Eltern haben sich scheiden lassen, als du und deine Geschwister schon „aus dem gröbsten raus“ gewesen seid. Die Weichen Richtung Scheidung waren aber früh gestellt. Woran machst du das fest?

Ich glaube das ist etwas, was man als Scheidungskind in Retrospektive generell im Nachhinein dann doch immer schon lange erkannt haben will. Wenn ich aber ehrlich bin, dann habe ich lange Zeit immer gedacht, dass meine Eltern gegen alle Widrigkeiten für immer zusammenbleiben werden – eben weil sie auch sehr fest am klassischen Kleinfamilienidyll festgehalten und das auch sehr bewusst vorgelebt haben. Gleichzeitig aber waren meine Eltern auch die ersten, von denen ich gelernt habe, wie hart und anstrengend es ist, ein sorgloses Familienleben zu ermöglichen. Dadurch, dass wir eine Großfamilie waren, mussten sie natürlich noch mehr entbehren – und selbst oft zurückstecken. Und ich glaube, schon da wurde mein Misstrauen gegenüber kleinfamiliären Idealen genährt: Klar, eine große Familie ist schon was tolles, aber diejenigen, die die Verantwortung für die ganze Unternehmung haben, haben nicht immer eine tolle Zeit.

Wie alt warst du bei der Scheidung deiner Eltern? Und welche Bedeutung hat es für dich, ein Scheidungskind zu sein?

Ich war 27, als sich meine Eltern getrennt haben, also kann man schon sagen, dass ich jetzt nicht das klassische Scheidungskind bin – eher eine „Scheidungserwachsene“. Da stand ich selbst vor einer Scheidung und hatte vor allem sehr viel Verständnis dafür, dass meine Eltern diesen Schritt vornahmen. Mich hat vielmehr – auch durch meine eigene Scheidung – der ganze bürokratische Nachgang geprägt. Die Erkenntnis, dass die Gesetze, die es in Deutschland gibt, eben nicht fair sind. Ich bin jetzt in einem Alter, wo auch in meinem eigenen Umfeld die Scheidungs- und Trennungswelle um sich greift. Und wenn ich mir viele Geschichten anhöre, dann habe ich das Gefühl, dass das System gewährleistet, dass vor allem Männer nach einer Trennung oft nochmal fresh durchstarten können – und Frauen zusehen müssen, wie sie klarkommen. Insbesondere dann, wenn Kinder im Spiel sind oder es darum geht, die Care-Arbeitsleistung von Frauen während einer Ehe, die ja oft zulasten beruflicher Aktivitäten geht, zu bewerten. Ungerechtigkeit im Patriarchat hört ja nach einer Trennung nicht auf, sondern haut oft auch noch mehr rein.

Kommen wir mal zu Nadia und den Beziehungen. Diese Kapitel habe ich geliebt, weil ich ständig sagen wollte „genauso war es bei mir auch“. Du schreibst: „Nicht alle Beziehungen waren ein Plusgeschäft.“ Woran lag’s?

Lustigerweise sagen das viele Frauen, und ich glaube, das liegt daran, dass ich ja gewisse Muster beschreibe, die anscheinend weit verbreitet sind. Ich glaube mittlerweile, dass eine Beziehung zu führen, ein Lifestyle ist – und ein aufwändiger noch dazu, gerade wenn es um Hetero-Beziehungen geht. Und ja, das hört sich super-unromantisch an, aber man sollte auch Hetero-Romantik immer wieder kritisch unter die Lupe nehmen. Und da hilft es oft, auch bei sich selbst anzufangen. Man bandelt als Hetero-Frau mit Profiteuren des Patriarchats an, und das bleibt oft natürlich nicht folgenlos.

Wenn man schon kein Girlboss wird, ist es dann nicht vielleicht erstrebenswert zu heiraten und ein Familienboss zu werden?

Da bin ich auch aus eigener Erfahrung mittlerweile pragmatisch: Wenn jemand vor dieser Entscheidung steht, lohnt es, die romantische Brille abzunehmen, und sich die verfügbaren Parameter zum Gelingen des Unternehmens anzuschauen. Und dann: Do the math!

Warum ist dieses Girlboss-Ding eigentlich auch ein Genderthema? Können Frauen nicht mittlerweile ebenso viel erreichen wie Männer?

Girlboss an sich ist ja schon ein sehr sexistischer Begriff – niemand würde jemals von einem „Boyboss“ sprechen oder Männer zu Karrieren antreiben, damit sie sich „nicht in Abhängigkeiten verstricken“. Die Idee, dass es Girlbosse geben muss oder kann, geht ja auch einher mit der Realität, dass es einen Status Quo gibt.

Und kommen wir über dieses Thema, also das Patriarchat, auch irgendwie zum Kapitalismus?

Auf jeden Fall. Kapitalismus und Patriarchat geben sich ja prima die Klinke in die Hand. Auf die Arbeitsleistung von Frauen, und insbesondere auch der unbezahlten, muss ja immer zugegriffen werden, damit das System läuft.

Kannst du uns dazu auch etwas aus deinem soziologischen Blickwinkel erzählen? In was für einer Gesellschaft leben wir? Und was bedeutet das für Menschen, mit denen du in deinem Berufsleben in der Erwachsenenbildung zu tun hast?

Darüber kann man ganze Bücher schreiben, aber kurz gesagt würde ich es so zusammenfassen: Das System ist so aufgebaut, dass es einige wenige Gewinner_innen gibt, die davon profitieren, dass andere eben möglichst nicht auf der Gewinnerseite landen. Und dazu gehört auch, dass natürlich nicht nur Frauen, sondern auch andere wie zum Beispiel migrantisierte Menschen, Menschen mit Behinderung, (chronisch) erkrankte Menschen, alte Menschen, Menschen mit Care-Verantwortung und viele andere eben nicht nur aufgrund individueller Entscheidungen da sind, wo sie sind – sondern das System Plätze zuweist.

Das hört sich nicht alles schön und vor allem auch nicht wirklich fair an. Wie starten wir eine Revolution? Gesellschaftlich und privat?

Das ist ja die große Frage des Lebens, die ich tatsächlich nicht beantworten kann – man müsste das Patriarchat und den Kapitalismus und sämtliche *ismen beseitigen. Ich wollte aber auch kein feministisches Buch schreiben, dass nur runterzieht und nichts Machbares anbietet – obschon das natürlich etwas sehr soziologisches ist, einfach nur den Ist-Zustand zu beschreiben und dann, tschüss! Deswegen rate ich dazu, sich jeden Tag zu fragen, wie man so oft es geht unbrauchbar für den Kapitalismus und das Patriarchat sein kann. Und wenn es das Extra-Nickerchen zwischendurch ist, dann: Go for it!

Das ist eine gute Idee. Ich lege mich jetzt erstmal eine Runde auf die Couch und ignoriere meine To-Do-Liste. Danke, Nadia!

Anti-Girlboss

Den Kapitalismus vom Sofa aus bekämpfen
Nadia Shehadeh


224 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN: 9783550202209
EUR 17,99 [D] · EUR 18,50 [A]

»Work hard, party hard!« »Leistung zahlt sich aus!« Solche hohlen Phrasen kann Nadia Shehadeh nicht mehr hören. Was, wenn der Führungsjob mit Verantwortung keinen Spaß macht, Papier sortieren am Kopierer aber schon? Was, wenn man kein Leben auf der Überholspur führen möchte, sondern lieber auf der Couch liegt und auf »productivity« pfeift? Und was, wenn das von vielen gelobte Leistungsprinzip eigentlich nur eine Mär ist, die Statusunterschiede nicht erklären kann und Menschen unglücklich macht?

Vor allem Frauen wird eingetrichtert, dass sie sich mit individuellem Ehrgeiz aus gesellschaftlichen Ungerechtigkeitsstrukturen befreien könnten. Das ist kollektiver Selbstbetrug, der uns auf perfide Art Chancengleichheit vortäuscht und zu immer mehr bezahlter und unbezahlter Arbeit antreibt, findet Nadia Shehadeh. Statt ein stressiges Leben auf der Überholspur befürwortet sie das Leben als Anti-Girlboss: Ambition spielt darin keine Hauptrolle mehr und das Durchschnittliche wird nicht verachtet, sondern begrüßt. Sie plädiert dafür, sich eine Komfortzone zu bewahren, die davor schützt, für Anforderungen von außen auszubrennen.

Wenn wir erkennen, dass es nicht so wichtig ist, alles zu haben, alles zu können und immer am Limit zu arbeiten, lebt sich das Leben nicht nur leichter, sondern auch glücklicher.

Von Sara Buschmann