Interview mit Nils Pickert
Lieber Nils, ich habe dich in Mülheim bei Viva la Gender im Gespräch mit Alexandra Zykunov und Anne Dittmann zum ersten Mal gesehen und war danach sehr neugierig auf dein Buch „Lebenskompliz*innen“. Ich bin selbst alleinerziehende Mutter und aktuell Single. Warum kann Lebenskompliz*innen auch für Menschen interessant sein, die gerade nicht in einer Partnerschaft leben?
In einer Lebenskompliz♡innenschaft geht es um Liebe und Liebe beschränkt sich glücklicherweise nicht nur auf eine aktuelle Paarbeziehung. Ich habe Liebe für meine Kinder, für meine Eltern und Geschwister, für Freundinnen und Freunde. In meinem Buch geht es darum, wie man für Liebe einen tragfähigen, belastbaren Rahmen schaffen kann, damit sie funktioniert und wachsen kann. Die Frage stellt sich nicht nur für Paarbeziehungen.
Ist dein Buch als Ratgeber für gleichberechtigte Partnerschaften zu verstehen oder wie würdest du es definieren?
Ich würde es nicht als Ratgeber sehen, obwohl ich darin Rat gebe. Das Buch ist ein Nachdenken darüber, warum gleichberechtigte Liebe notwendig ist. Was sie ausmacht, was sie verhindert, wie sie realisiert werden kann. Es ist nicht zuletzt auch aus einem Defizitgefühl entstanden: Ich habe zu dem Thema kein einziges Buch gefunden, obwohl das Thema viele umzutreiben scheint. Es gibt viele gute und wichtige Wissenssplitter in vielen guten und wichtigen Büchern. Aber immer nur als Nebenthema, nie als Hauptsache.
Ich habe von dir ein neues Wort gelernt Limerenz. Kannst du unseren Leser*innen einmal erklären, was damit gemeint ist?
Limerenz ist der Fachbegriff für die unfreiwillige, obsessionsnahe Verliebtheit, die viele von uns gerade in den frühen Phasen einer Beziehung erleben. Dafür haben wir auch viele umgangssprachliche Formulierungen: Verknallt sein, durch die rosarote Brille sehen, sich in der Honeymoon-Phase befinden, Schmetterlinge im Bauch haben. Romeo und Julia – das ist Limerenz. Diese Phase kann bis zu drei Jahren anhalten und ähnelt einem Drogenrausch. Sie veranlasst und belohnt uns dafür, dass wir uns überhaupt auf jemanden einlassen, über den oder die wir eigentlich viel zu wenig wissen. Wir binden enorme Ressourcen an eine Person ohne vorher sagen zu können, ob es das wert ist. Limerenz hilft uns dabei, indem sie die entsprechende Person in das bestmöglichste Licht taucht.
Heißt das im Umkehrschluss, dass man eigentlich erst nach mindestens drei Jahren sagen kann, ob eine Partnerschaft wirklich die Chance hat zu halten?
Limerenzphasen sind Stützräder für unsere Liebesbeziehungen. Ob wir auch ohne Stützräder vorankommen, finden wir tatsächlich erst danach und ganz allmählich heraus. Manche Menschen wollen das nicht. Sie stürzen sich von einer Limerenzphase in die nächste, weil dieser rauschhafte, stützradgesicherte Zustand ihnen besser gefällt als das, was ich Liebe nennen würde.
Was ist Liebe? Du hast da ja eine sehr eigene Definition gefunden.
Das war wirklich schwierig. Liebe hat zahlreiche Definitionen und Dimensionen. Einerseits muss ich das abbilden, andererseits komme ich in einem Buch über Liebe nicht ohne eine klare Definition derselben aus. Ich muss mich ja mit meinen Leser*innen darüber verständigen, wovon wir hier reden. Am Ende habe ich mich dafür entschieden, Liebe als Sehnsucht danach und Bemühen darum zu definieren, sich gegenseitig ineinander zu beheimaten. Diese Definition mag zunächst esoterisch oder nebulös klingen, funktioniert aber erstaunlich gut. Nicht zuletzt auch dann, wenn wir von etwas anderem sprechen als romantischer Liebe.
Du sprichst in Lebenskompliz*innen von vier Ws, die aus deiner Sicht essenziell für eine Beziehung auf Augenhöhe sind. Was verbirgt sich dahinter?
Wohlwollen. Wahrhaftigkeit. Wissbegier. Wandelbarkeit.
Wohlwollen, weil es darauf ankommt, nach Kräften alles dafür zu tun, zu Gunsten des Herzensmenschen zu rechnen. Sein Verhalten nicht zu skandalisieren, mein Verhalten nicht zu idealisieren. Sich in Wohlwollen zu halten, ist die zentrale Aufgabe von Liebesbeziehungen.
Wahrhaftigkeit, weil es um die Offenbarung meiner Bedürfnisse und meiner Identität vor mir und meinem Herzensmenschen geht. Wahrhaftigkeit sorgt nicht dafür, dass mir alle Wünsche erfüllt werden. Aber den Fragen, ob ich beispielsweise Kinder möchte, wie viel ich im Haushalt zu tun gedenke und ob ich auf einen Dreier scharf bin, sollte ich mit Wahrhaftigkeit begegnen. Andernfalls führen nicht wir unsere Beziehungen, sondern Abziehbilder, die wir glauben sein zu müssen beziehungsweise von dem Herzensmenschen annehmen.
Wissbegier, weil ich neugierig darauf bleiben sollte, wie sich meine Beziehung und mein Herzensmensch entwickeln. Wenn mich das irgendwann nicht mehr interessieren sollte.
Und Wandelbarkeit, weil alles dem Wandel unterliegt. Menschen ändern sich. Also gilt es jeden Tag aufzustehen und sich neu füreinander zu bestimmen.
Und dann noch die Frage: Wie wichtig ist 50/50 für eine gleichberechtigte Partnerschaft? Kannst du das vielleicht auch mal in einem persönlichen Beispiel erläutern?
50/50 in dem Sinne, dass alle in gleicher Anzahl das Gleiche tun, gibt es nicht. Wir sind unterschiedliche Menschen und unterliegen Zwängen, die 50/50 unmöglich machen. Gerade deshalb sind Gleichberechtigung und Fairness so wichtig. Ich habe während des Schreibens meines ersten Buches meine vier Kinder alleine betreut, weil meine Lebenskomplizin in einer anderen Stadt einen neuen Job angefangen hat. 50/50 würde bedeuten, dass ich jetzt meine 9 Monate bekomme. Ich will das gerade aber gar nicht. Und unsere Lebenssituation gibt das auch nicht her. Was ich brauche, ist Wertschätzung. Ausgleich. Dafür bedarf es Kommunikation. Um nicht zu sagen Verhandlungen. Eine der größten Gemeinheiten, die romantische Liebe à la Hollywood uns antut, ist die Behauptung, alles würde und müsste sich wie von selbst ergeben, wenn man sich nur genug liebt. Das ist eine Lüge. Unsere Liebe braucht einen Ort, den wir für sie erschaffen müssen. Sie lebt in keinem versprochenen Schloss. Sie wohnt in der Bruchbude, die wir für sie zusammenzimmern. Nur wenn wir das wissen, können wir in Gleichberechtigung die schönstmögliche, sicherste Bruchbude für sie bauen.
Du sagst, dass Eltern mit einer Mammutherde an Aufgaben konfrontiert werden, sobald Kinder kommen. Was bedeutet dies für „berufstätige Mütter“ und „Familienväter“?
Zum einen, dass es an sich schon ein unfassbarer Kraftakt ist. Zum anderen, dass die vorherrschenden Geschlechterrollen diesen Kraftakt noch schwieriger machen. Es hat ja einen Grund, warum du nicht von „berufstätigen Vätern“ und „Familienmüttern“ sprichst. Gerade für Elternliebespaare ist Lebenskompliz♡innenschaft unerlässlich. Sie sind mehr denn je auf die vier Ws angewiesen, aber insbesondere Wohlwollen ist rar gesät. Deshalb ist es angebracht, vor einer Elternschaft so viel wie möglich Beziehungsarbeit schon geleistet zu haben. Natürlich wird man damit nie fertig. Und selbstverständlich gibt es viele Dinge, auf die man sich nicht vorbereiten kann. Aber gerade deshalb sollte man alles in die Waagschale werfen, um vor der Elternschaft einander Heimat zu sein.
Auf unserer Plattform lesen auch einige Menschen mit, die kurz vor einer Trennung stehen oder sich zumindest mit der Möglichkeit einer Trennung auseinandersetzen. Gibt es dazu auch Informationen in deinem Buch? Hast du ein mögliches Trennungsszenario auch für dich und deine Partnerin einmal durchdacht?
Gerade weil ich meine Lebenskomplizin sehr liebe, beschäftige ich mich damit. Eine Trennung wäre furchtbar für mich. Ich kenne sie, seit wir Kinder waren. Sie ist die Mutter meiner vier Kinder, meine beste Freundin und mein Lieblingsmensch. Das ändert nichts daran, dass diese Beziehung irgendwann vorbei sein könnte. Das wäre sehr grauenhaft und sehr normal. Ich kann auch für diesen Fall nur daran arbeiten, ihn möglichst gleichberechtigt zu meistern. Wenn ich meine Lebenskomplizin nicht mehr liebe und die Beziehung beenden möchte, würde ich nicht wollen, dass sie mich hält. Ich würde nicht wollen, dass sie die Kinder gegen mich aufwiegelt, mich schlecht macht und mir Steine in den Weg legt. Also gestehe ich ihr das Gleiche zu. Das ist natürlich alles nur graue Theorie und Absprache – aber mehr ist sowieso nicht drin.
Aber nun auch noch einmal zurück zu meiner Situation. Was würdest du mir in puncto Dating raten? Wie kann ich erkennen, ob mit einem Gegenüber eine Lebenskompliz*innenschaft möglich werden könnte? Gibt es Grundvoraussetzungen?
Auch hier helfen die vier Ws. Ist der Mensch, auf den ich treffe, wissbegierig? Will er wirklich wissen, wer ich bin, was mich antreibt und wohin ich möchte, oder sind ihm diese Informationen nur Mittel zum Zweck? Erträgt dieser Mensch Wandel oder wird er dadurch eher verunsichert? Ist er sich selbst und mir gegenüber wahrhaftig? Können wir gemeinsam verletzlich sein? Und vor allem: Verhält sich dieser Mensch mir gegenüber wohlwollend? Wenn all das zutrifft, sind das ziemlich gute Voraussetzungen dafür, sich jenseits des aufregenden Limerenzgefühls gegenseitig ineinander zu beheimaten.
Was mich außerdem noch interessiert: Wie bist du ganz persönlich eigentlich auf die Themen Gleichberechtigung und Feminismus gestoßen? Du hast ja auch lange für Pinkstinks gearbeitet. War das eine bewusste Entscheidung oder ein eher organischer Prozess?
Beides. Im April 2023 erscheint mein neues Buch. Es heißt er/ihm und handelt genau davon. Es gibt nicht den einen, es gibt viele Gründe dafür.
Was bringt dir als Mann dieses Engagement und was erhoffst du dir perspektivisch davon?
Freiheit. Nichts weniger. Es gibt einen altmodischen Spruch, den man früher gerne Mädchen an den Kopf geworfen hat, die etwas burschikoser aufgetreten sind: „An dir wäre ein Junge verloren gegangen.“ Meine Arbeit mit Männern besteht zum größten Teil darin, ihnen klarzumachen, dass an ihnen ein Junge verloren ist. Nämlich der, den sie aufgeben mussten, um vor anderen und sich selbst als Mann zu gelten. Mit was für tollen und großartigen Männern unsere Welt bevölkert wäre, wenn wir ihnen nicht die Jungen wegnehmen würden, die zärtlich sind, freundlich, liebevoll, schutzbedürftig und aufgeschlossen. Ich habe in meinem Leben mehr als einen Mann getroffen, der seine Liebe verloren hat, weil er nicht gemerkt hat, wie abfällig, mauernd, starr und desinteressiert er sich verhalten hat. Einfach weil er davon ausgegangen ist, dass dieses Verhalten zu ihm und seiner Geschlechtsidentität gehört. Mein Job ist es, dazu einen Gegenvorschlag zu machen.
Danke, Nils. Dein Buch und dieses Gespräch waren super. Ich habe einiges dazugelernt und viele Denkanstöße bekommen. „Lebenskompliz*innen“ hat mich außerdem darin bestätigt, dass meine letzten Beziehungsversuche nicht das Potential für gegenseitige Beheimatung hatten und es richtig war, sich aus diesen irgendwann zurückzuziehen. Es ist toll zu sehen, dass es auch immer mehr Männer gibt, die sich für Gleichberechtigung und feministische Themen einsetzen — und davon auch glauben, profitieren können.
Nils Pickert | Lebenskompliz*innen
Liebe auf Augenhöhe
Paperback, 288 Seiten
ISBN: 978-3-407-86706-3
EUR 19,00 (D)
Liebe ohne Augenhöhe ist möglich, aber sie hat keine Zukunft. Mit dieser These seziert der Autor und Feminist Nils Pickert den Zusammenhang zwischen Liebe und Gleichberechtigung. Dieses Buch ist ein Frontalangriff auf die romantische Liebe mit dem Ziel, die Liebe zu retten. Ein radikales Buch, das ungeschminkte und berührende Einsichten in den Alltag von Beziehungen bietet. Und ein versöhnliches Buch, das zeigt, wie gleichberechtigte Liebe durch Lebenskompliz*innenschaft gelingen kann.
Was genau bedeutet es, auf Augenhöhe zu lieben? Das Bild der romantischen Liebe geht im Kern vieler Bücher, Filme, Songs oder Statements in den sozialen Netzwerken nämlich immer noch von Ungleichheit aus. Dieser Ungleichheit hält Nils Pickert das Konzept der gleichberechtigten Lebenskompliz*innenschaft entgegen, die Romantik frei von Klischees zulässt. Er hinterfragt, welche Rolle Sex, Geld, Kinder, Karriere und unterschiedliche Bedürfnisse dabei spielen. Ein tabuloses Buch zur eigenen Standortbestimmung.
Von Sara Buschmann