Wenn unsere Solidarität immer nur auf Gegenseitigkeit beruht, sind wir verloren 

Je länger die Ampel sich in der Sozialpolitik spaltet, desto härter wird die soziale Spaltung in der Gesellschaft. 

Die Grundsicherungsleistung Hartz IV wurde in meinem Geburtsjahr eingeführt. Es ist also kein Floskelgerede zu sagen, dass Hartz IV und seine umstrittene Devise „Fördern und Fordern“ schon so lange existieren, wie ich lebe. Vergangenen Dezember wurde es aber interessant: Auf einmal gab es eine Regierung aus Parteien, die diesen Leitsatz in den letzten 16 Jahren kritisiert, und Parteien, die ihn gefeiert haben.

Dass die Koalitionspartner sich in Sachen Sozialpolitik am uneinigsten sind, wussten wir damals schon. Vor diesem Hintergrund hätte man eine große Masseneuphorie erwarten können, als die Ankündigung einer lang ersehnten Hartz-IV-Reform kam. Der erwartbare Hype blieb jedoch aus. Die Reaktion ähnelte eher einem gedämpften Aufatmen, da es leider außer einer Namensänderung noch nichts zu hypen gab. Plötzlich lag der Verdacht nahe, dass es die Koalitionäre nicht geschafft hatten, sich auf vieles — über das Wort „Bürgergeld“ hinaus — zu einigen. Die elementaren Themen, wie Regelsätze und Sanktionen, ließ man noch unberührt und versah sie mit einem großen „Fortsetzung folgt“. Reform irgendwann halt. Irgendwie. 

Entsprechend niedrig waren die Hoffnungen. Bis Februar. Die Super-Inflation sollte einen neuen Diskurs über die viel zu niedrigen Löhne im Land auslösen — und damit auch über die Regelsätze. Ende Juli war es dann soweit. Regierungsmitglied Hubertus Heil konkretisierte die Hartz-IV-Reform (und ließ dabei den ausschlaggebenden Punkt der Regelsätze immer noch so unkonkret wie möglich). Trotzdem hagelte es schon am selben Tag Kritik aus den eigenen Koalitionsreihen über den bloßen Gedanken, die Regelsätze zu erhöhen oder die Sanktionen zu reduzieren. Der Verdacht, dass es die Partner nicht wirklich geschafft hatten, sich in diesen Fragen zu einigen, erwies sich als korrekt. Und das hat weitere Implikationen. Denn immer mehr werden wir zu Augenzeugen davon, wie die Ampel sich in den sozialen Fragen zerlegt. Und uns langsam in den sozialen Abgrund katapultiert.

(Meist privilegierte) Menschen, die in der Corona-Pandemie eine soziale Spaltung kleingeredet haben, sind spätestens im Februar verstummt. Manche von ihnen sind nun in Regierungsverantwortung und sich dennoch keiner Verantwortung bewusst, in den kommenden Monaten neue Entlastungsmaßnahmen auf den Weg zu bringen. Zumeist verwenden sie das Alibi, dass es in Zeiten der Pandemie und des Ukraine-Krieges nicht möglich sei, es den Menschen immer recht zu machen. Oder so Geld auszugeben und zu handeln, wie man es sich gern gewünscht hätte. Ginge man nach dieser Logik (vielleicht, um damit auch zu rechtfertigen, wie wir gerade ganz leise unsere Klimaziele über Bord werfen) würde das aber bedeuten, dass erst recht in diesen Zeiten eine Regierung, die zuvor keinen klaren Kurs in den sozialen Fragen fahren konnte, nun ihren Kurs radikal wechseln müsste, um eine soziale Spaltung zu unterbinden. Doch bisher ist das Gegenteil passiert. In Zeiten, in denen wir zusammenhalten müssen, kommen die Disparitäten der drei Koalitionspartner immer stärker zur Geltung.

Davon am heftigsten betroffen ist die Sozialpolitik. Zunächst geschah es auf subtile Art, indem die Ampel aufgrund eines parteipolitischen Interessenkonflikts (und jedweder Logik zum Trotz) einen Tankrabatt und ein 9-Euro-Ticket zugleich einführte. Immerhin erwies sich zumindest eine dieser Entlastungsmaßnahmen als substanziell wirksam. Nun, wenn beide langsam auslaufen, wird der Parteienkonflikt auf Kosten der Ärmsten immer ersichtlicher: Eine Regierungspartei wirbt öffentlich für die Fortsetzung des 9€-Tickets, eine andere zerstört jede Hoffnung darauf, mit genau jenem Alibi, das ich weiter oben identifiziert habe.

Der Höhepunkt dieses Sozial-Fiaskos kam vor zwei Wochen: als der Arbeitsminister vor die Presse trat, um die Hartz-IV-Reform langsam ins Rollen zu bringen, schrillten bei einem Minister desselben Kabinetts die Alarmglocken. Kurzerhand holte der FDP-Finanzminister Christian Lindner eine irrtümliche, phrasenhafte Redewendung zurück aus dem Keller (wo sich lang auch unsere Grundsicherung befand): Solidarität darf keine Einbahnstraße sein. Oder anders gesagt: Die Grundsicherung soll im Keller bleiben.

In den vergangenen 16 Jahren bedeutete „Fördern und Fordern“, dass unsere Solidarität nur dann zu haben ist, wenn sie auf Gegenseitigkeit beruht. Konkret bedeutete das: Wir zeigen Arbeitslosen Solidarität und geben ihnen Geld — aber nur, wenn sie sich dafür mit dem Staat solidarisieren und schnellstmöglich in den Arbeitsmarkt zurückkehren. Unlängst wurde immer kritischer hinterfragt, ob es tatsächlich solidarisch sei, ihnen Leistungen unterhalb des Existenzminimums zu zahlen oder sie geradewegs in einen schlecht bezahlten Job mit katastrophalen Arbeitsbedingungen zu zwängen.

Arbeitslose konnten unserem Solidaritätsanspruch nur gerecht werden, indem der Staat seine eigene Solidarität über den Haufen warf und sie in unmenschliche Beschäftigungen im Niedriglohnsektor drängte. Und jenen, die sich diesem unsozialen Prozedere widersetzten, entzog man die letzte Solidarität mit Sanktionen. Trotz dieser Scheinheiligkeit wurde versucht, ein solidarisches Gesicht zu wahren. Hochrangige Politiker:innen machten es sich zum Nebenjob, die Schuld auf die Arbeitslosen zu schieben und sie als Systemsprenger und Sozialschmarotzer abzutun. Ein gewisser Altkanzler, über den man heute nicht mehr so gern redet, machte dies schon kurz nach der Einführung, indem er die Grundsicherung für immer mit Faulheit konnotierte.

Arbeitslose zur Solidarität zu zwingen, indem wir unserer eigenen Solidarität den Rücken zukehren, ist das Vermächtnis von „Fördern und Fordern“. Und dennoch erheben Regierungsmitglieder in diesen Tagen ihre Stimme für die Fortführung dieses Leitsatzes. Sie kontaminieren die Vorschläge ihres eigenen Kabinetts. Die Begründung: Solidarität darf keine Einbahnstraße werden. Die beidseitige Solidarität, die es nie gegeben hat, soll fortgesetzt werden. Doch muss es sie überhaupt geben?

Der Begriff Solidarität findet seinen Ursprung nicht zuletzt in der Arbeiter:innenbewegung. Unlängst hat die Corona-Pandemie und der Angriffskrieg in der Ukraine dazu geführt, dass sich dieses Wort in den Köpfen der Republik eingebrannt hat. Die Vorstellung, dass Solidarität immer auf Gegenseitigkeit beruhen muss, fußt auf dem Erfolg der öffentlichen Stimmen, die uns mit der Stigmatisierung und Schuldsprechung Langzeitsarbeitloser in den vergangenen 16 Jahren haben glauben lassen, ein Sozialstaat sei im Recht, jegliche Solidarität zu entziehen, wenn nicht die geforderte Leistung erbracht wird.

Über die Jahre hat das großen Einfluss gehabt. Auch in meinem Umfeld gibt es Menschen, die Politiker:innen zustimmen, wenn sie sagen, es sei nicht vertretbar, die Leistungen für ALG-II-Bezieher:innen anzuheben. Politiker:innen erklären es damit, dass es attraktiv bleiben muss, arbeiten zu gehen. Kurzum: Nicht noch mehr Menschen sollten zu Sozialschmarotzern werden. Anscheinend ist das Menschenbild in der Politik schon so angeknackst. Paradoxerweise sprechen Politiker:innen, die das sagen, aber schon das Problem an: Wenn die Erhöhung der extrem niedrigen Regelsätze als Gefahr angesehen wird, weil Menschen dann vielleicht keinen Mehrwert mehr darin sehen, arbeiten zu gehen, was sagt das dann über die Höhe der Löhne auf unserem Arbeitsmarkt aus? Wie lang wollen wir noch niedrige Löhne instrumentalisieren, um niedrige Regelsätze zu rechtfertigen? Die Lösung liegt darin, sowohl Regelsätze als auch Löhne anzuheben. Beide diese Debatten werden zum Glück öffentlich geführt. Wie die eine aber mit der vermeintlichen Gefahr einer Massenarbeitslosigkeit aufgehalten wird, wird die andere neuerdings mit der Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale ausgebremst. Heute lösen wir also Probleme, indem wir Horror-Szenarien an die Wand malen und sie dann gar nicht mehr angehen. Problem gelöst. Oder so.

Durch diese Debattenführung schafft es die Politik, sich der Verantwortung des Sozialstaates zu entziehen: Menschen nicht allein zu lassen und bedingungslose Solidarität zu zeigen. Dass es verschiedene Solidaritätsstufen gibt, ist dadurch nicht einmal ausgeschlossen. Nehmen wir einmal das Beispiel Hartz IV. Vielleicht wäre es nach 16 Jahren Sanktionierung einmal an der Zeit zu schauen, ob es nicht produktiver ist, vorbehaltlos und konsequent solidarisch zu sein und Arbeitslose in menschengerechte Jobs unterzubringen. Und sie zum Beispiel mit noch mehr Solidarität zu belohnen, wenn sie zu diesem Zweck einen Termin wahrnehmen.

In den vergangenen 16 Jahren wurde es aber als unsolidarisch definiert, wenn Menschen sich einer miserablen, niedrig belohnten Anstellung widersetzt haben. Es wurde als unsolidarisch definiert, wenn sie deshalb in der Grundsicherungsleistung geblieben sind oder ihr Leben so ausgebeutet worden war, dass sie diese nicht einfach verlassen konnten. Unsolidarisch war das System, das sie dorthin gebracht hat. Unsolidarisch war das System, das sie schnellstmöglich wieder davon abbringen wollte. Wenn die Ampel an diesem verkorksten Solidaritätsbegriff festhält, wenn die Ampel die Regelsätze nicht den derzeitigen Mehrbelastungen entsprechend anpasst, ist es der letzte Beweis für einen inneren Konflikt, der der Sozialpolitik immer mehr zum Verhängnis wird.

Mit sozialpolitischer Spaltung in der Regierung können wir nicht die soziale Spaltung in der Bevölkerung verhindern. Wir brauchen Politiker:innen an der Spitze, die gerechte Entlastungsmaßnahmen für die Ärmsten treffen, die weit über eine dreimonatige Frist hinausgehen. Vielleicht braucht es dafür erst einmal Menschen auf der Straße. Als Sozialaktivist spüre ich immer mehr Druck, in diesen Zeiten etwas zu unternehmen. Und als junger Mensch, auf dem immer mehr Druck lastet, bald einen Platz im Arbeitsmarkt einzunehmen, bin ich besorgt. Vielleicht liegt es in den nächsten Monaten an den jungen Menschen, für faire Löhne und eine schrumpfende Kluft zwischen Arm und Reich, für ihr Wohlergehen und für ihre Zukunft zu kämpfen. Denn momentan spaltet die Ampel nicht nur sich selbst, indem sie ausreichenden Lohn- und Regelsatzerhöhungen widerspricht, sie spaltet auch uns. Und während die Armutszahlen weiter steigen und die Ampel leise darauf hofft, dass die Menschen nicht auf die Barrikaden gehen, treten wir ein, in den sozialen Notstand. Und wir fragen uns, wo bleibt die Solidarität? 

Gianni Matheja wuchs bei einer alleinerziehenden Mutter auf und beschäftigt sich mit Armutsbekämpfung als Aktivist für soziale Gerechtigkeit. Er moderiert den Podcast Soziales Deutschland.

Gastbeitrag von Gianni Matheja

Foto: © Rene Scheffold