Um Himmels willen, lasst den Kindern die 35 Euro!

Weil das 9-Euro-Ticket so günstig ist, sollen einige Sozialleistungsempfänger*innen Geld zurück zahlen

Das 9-Euro-Ticket für jeweils Juni, Juli und August sollte für alle Familien finanzielle Entlastung bringen. Aber wer bestimmte Sozialleistungen bezieht, muss nun mit einer Rückzahlungsforderung vom Jobcenter rechnen, denn: In den Juni-Zahlungen wurde die günstigere Monatskarte nicht berücksichtigt und der Differenzbetrag sei eine „ungerechtfertigte Bereicherung“. Während sich Bundesländer wie Schleswig-Holstein, Sachsen-Anhalt und Brandenburg kulant zeigen und in den Monaten Juli und August einfach weniger Geld auszahlen, fordern laut HartzIV.org Baden-Württemberg, Thüringen, Bayern und Niedersachsen sogar den bereits gezahlten Differenzbetrag für Juni zurück. Ernsthaft?! Schenkt den Familien doch bitte das bisschen Bonusgeld!

Die Rückzahlungsforderung dürfte nicht nur Hartz-IV-Empfänger*innen betreffen, obwohl in sämtlichen Medien ausschließlich von Hartz IV die Rede ist: Aber letztendlich geht es um das Leistungspaket für Bildung und Teilhabe, das auch Eltern für ihre Kinder unter anderem auch dann beantragen können, wenn sie Geringverdiener*innen sind und daher den Kinderzuschlag oder Wohngeld beziehen. Das Leistungspaket für Bildung und Teilhabe dient dazu, dass Kinder aus einkommensarmen Familien teilhaben können, zum Beispiel an Klassen- und Kitafahrten, Mittagessen, Sport, Kultur und Freizeit – und eben auch an den öffentlichen Verkehrsmitteln, um zur Schule zu kommen. Aus dem Leistungspaket für Bildung und Teilhabe werden je nach Bundesland circa 45 Euro für die Monatskarten für Schüler*innen bezahlt.

Wenn das Monatsticket nun über die Sommermonate Juni, Juli und August günstiger ist, dann können Kinder das bisschen Bonusgeld für andere Aktivitäten nutzen, die Bildung und Teilhabe dienen. Auf der anderen Seite: Wie viel kostet wohl der bürokratische Aufwand für eine Leistungsrückforderung – vom Beschluss bis zu den Millionen Briefen, die dafür an die Leistungsempfänger*innen geschickt werden. Das in Euro zu beziffern ist schwer. Trotzdem muss ich unweigerlich an meine letzte Rechnung von der Polizei fürs Falschparken denken, die mir nach meinem Widerspruch 25 Euro für den bürokratischen Aufwand berechnet hat – gut, Einzelfallentscheidungen sind teurer. Aber, verdammt noch mal, Jobcenter und Wirtschaftsministerien können ihre Zeit besser nutzen als damit, Geld von armen Familien abzuknapsen! Das sehen die Mitarbeiter*innen offenbar selbst so: Über den Instagram-Account der ZEIT-Journalistin Julia Grass berichtet ein*e Mitarbeiter*in anonym von einer ähnlichen Situation im Sommer 2020: „Wir mussten damals als Sachbearbeiter im Jobcenter den Zuschuss aus dem Bildungs- und Teilhabepaket von den Eltern zurückfordern … Es war einfach nur peinlich!“

Peinlich ist auch die Begründung für die Rückforderung: Der Differenzbetrag sei eine „ungerechtfertigte Bereicherung“, wie es laut HartzIV.org das zuständige Ministerium in Baden-Württemberg formuliert. Der Begriff „Bereicherung“ ist gerade für alleinerziehende Hartz-IV-Empfänger blanker Hohn! Und er unterstellt Leistungsempfänger*innen und ihren Kindern das alte Klischeebild vom gemütlichen Leben in Saus und Braus. 35 Euro mehr im Monat fühlen sich für viele hart arbeitende Familien im Hartz-IV-Bezug in Anbetracht steigender Lebensmittelpreise wohl eher an wie einen Tag aufatmen.

Wir erinnern uns noch einmal kurz an Kinder: Das sind die jungen Menschen, die sich während der Pandemie so sehr zurückgenommen haben wie kaum eine andere soziale Gruppe in Deutschland. Warum kann man Kindern, die sowieso schon in armen Haushalten leben und von der Pandemie stärker belastet wurden als wohlhabende Kinder, nicht die insgesamt etwa 100 Euro (auf drei Monate) für Bildung und Teilhabe schenken – oder zumindest den mikrigen Differenzbetrag für Juni von circa 35 Euro? Sollen sie sich ein gutes Buch kaufen, Eis essen gehen, sich über neues Spielzeug oder sonst was freuen. Ich wüsste nicht, wie man Steuergelder aktuell besser einsetzen könnte.

Von Anne Dittmann

Porträt von SOLOMÜTTER Kolumnistin Anne Dittmann

Diese Kolumne wird unterstützt von der Stiftung Alltagsheld:innen.