Keine Einzelfälle, sondern System: Eine aktuelle Studie kritisiert die Praxis der Gerichte und Jugendämter

Der Soziologe Dr. Wolfgang Hammer hat die Studie „Familienrecht in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme“ veröffentlicht. Sein Fazit: Ideologische Vorstellungen unter Richter:innen, Anwältinnen und Jugendämtern würden dazu führen, dass man Kinder zu Unrecht von ihren Müttern trenne und sie gefährde statt zu schützen.

4. April 2022 – Die Studie basiert auf Untersuchungen von mehr als 1.000 Fällen und wertet unter anderem 92 Fälle aus, die vor dem Bundesverfassungsgericht und Bundesgerichtshof anhängig waren. Es zeigt sich, dass psychische und physische Gewalt den Hintergrund bilden und es in den Verfahren zu einer Täter-Opfer-Umkehr zu Lasten der Kinder kommen kann. Die Studie beleuchtet auch alarmierende Hintergründe zu Kindesanhörungen und -befragungen sowie zu gerichtlich herbeigeführten Wechselmodellen. Sichtbar würden Schwachstellen in der Familiengerichtsbarkeit sowie der Kinder- und Jugendhilfe, so Hammer, der weiß wovon er spricht: Der Fachautor ist unter anderem Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Deutschen Kinderhilfswerks, war Vertreter der Jugend- und Familienministerkonferenz und sitzt bei den Runden Tischen zum Sexuellen Kindesmissbrauch. Die Veröffentlichung dieser aktuellen Studie ist eine logische Fortführung seines langjährigen Engagements für die Rechte von Kindern und Jugendlichen.

„Was hier in Deutschland geschieht, steht im Widerspruch zum Grundgesetz, zur UN-Kinderechtskonvention, zur Istanbul-Konvention und zum Kinder- und Jugendhilfegesetz. Etablierte Erkenntnisse internationaler Bindungsforschung, der Entwicklungspsychologie und der Runden Tische zum Sexuellen Kindesmissbrauch werden nicht nur ignoriert, sondern ins Gegenteil verkehrt.“ Und weiter führt er aus: „Die Anzahl der belegten Fälle, die Rechtsverletzungen und deren Dokumentation zeigen, dass wir es mit einem handfesten rechtsstaatlichen Skandal zu tun haben, der sofortiges Handeln der politischen Verantwortungsträger erforderlich macht.“ 

Auch der ärztliche Direktor der Abteilung Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie der Universität Ulm, Prof. Dr. Jörg Fegert, pflichtet Hammer bei und appelliert an die Politik: „Für mich liest sich der ganze Text nicht wie eine nüchterne Bestandsaufnahme, sondern wie ein gut belegter parteilicher Aufschrei, endlich die Situation mit Blick auf das Kindeswohl, die zentrale Perspektive und Maxime im Kindesrecht und Familienrecht, zu betrachten. Dafür bräuchten wir repräsentative Rechtstaatsachenforschung und weniger Ideologie, gerade auch mit Blick auf die von der Ampelkoalition geplanten großen Reformen im familienrechtlichen Bereich.“ 

Doch was wird eigentlich im Detail kritisiert?

Die Studie „Familienrecht in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme“ nimmt die Rechtsprechung der vergangenen 20 Jahre unter die Lupe. In dieser Zeit wurde das „Kindschaftsrecht“ reformiert und unter anderem das gemeinsame Sorgerecht von Mutter und Vater als Regelfall festgelegt. Die Zahl der Sorgerechtsstreitigkeiten stieg nach der Reform stark an – in Westdeutschland um 23,6 % und im Osten sogar um 53,8 %. Aktuell werden in Deutschland durchschnittlich jährlich 148.600 Verfahren zum Umgangs- und Sorgerecht geführt. Bis zu 86.000 Kinder sind von sogenannten „hochkonflikthaften“ Verfahren betroffen.

Hammer bekam zunehmend Hilferufe von alleinerziehenden Müttern, die ad hoc von ihren Kindern getrennt wurden. In den meisten Fällen wurden veranlasste Inobhutnahmen mit einer „zu engen Mutter-Kind-Bindung“ begründet. Dies sei aber kein Grund für eine Kindeswegnahme, so Hammer, der selbst eine Behörde geleitet hat. Problematische Inobhutnahmen von gesunden, sozial gut integrierten Kindern, d.h. Inobhutnahmen ohne Gefahr wie Gewalt, Missbrauch oder Vernachlässigung, gingen in zwei Drittel der Fälle auf haltlose Anschuldigungen zurück. Seit Jahren werden in Deutschland empirisch nicht abgesicherte Konstrukte wie das ‚parental alienation syndrom‘ (PAS) in tendenziösen gerichtspsychologischen Gutachten und gerichtlichen Entscheidungen eingesetzt,“ weiß auch Fegert.

Ideologische Leitbilder scheinen Entscheidungen von Familiengerichten und Jugendämtern zu begünstigen. Diese seien nicht auf das Kindeswohl ausgerichtet und entzögen sich einer fachlichen und rechtlichen Begründbarkeit. Hinter dieser Entwicklung stünden vier – wissenschaftlich und fachlich nicht haltbare – Narrative:

  1. Mütter würden Kinder entfremden; 
  2. nur eine 50:50 Aufteilung der Betreuungszeit würde Kinder gesund aufwachsen lassen; 
  3. Mütter wollten Kinder und Geld sowie 
  4. Mütter erfänden Gewalt und Missbrauch. 

In Ausbildungen beziehungsweise Weiterbildungen für die Richterschaft und weitere Verfahrensbeteiligte würden diese Narrative in Schulungskonzepten vermittelt. Mütter würden darin als „Kinderbesitzer“ mit „Verfügungsgewalt“ bezeichnet. Susanne Mirau, Diplom-Pädagogin, Familienbegleiterin und Autorin, ergänzt: „Ideologische Leitbilder schaffen in der Gesellschaft ein Klima, das sich direkt auf Familien auswirkt, beispielsweise die Angst davor, sich vom anderen Elternteil zu trennen aus Sorge, das Kind zu verlieren oder das Kind schutzlos einem gewalttätigen Elternteil zeitweilig überlassen zu müssen.“ 

Und auch Heidi Thiemann, geschäftsführende Vorständin der Stiftung Alltagsheld:innen und Unterstützern der Studie, sieht dadurch eine unmittelbare Gefahr für Mütter und Kinder: „Die Diskriminierung von Müttern in Umgangs- und Sorgerechtsverfahren ist besonders entsetzlich, weil sie sich in hohem Maße auf das Wohlergehen und die Rechte der Kinder auswirkt.“

Die Kinder gefährdende Dynamik beginne bereits mit der Beratung in Jugendämtern und Beratungsstellen auf Basis fachlich falscher, ideologisch motivierter Annahmen, warnt auch Sybille Möller, Vorsitzende der Mütterinitiative für Alleinerziehende (MIA): „Die geplante Vorgabe der Ampel, Beratung künftig einheitlich auf das Wechselmodell auszurichten, würde eine weitere Verschärfung der in der Studie beschriebenen, unhaltbaren Belastungen von Kindern bedeuten.“

Gemeinsam kritisieren die Macher:innen und Unterstützer:innen der Studie insbesondere: 

  • langjährige und multiple Verfahren größtenteils ab dem Säuglings-/Kleinkindalter, 
  • damit einhergehende Verhaltensauffälligkeiten und Störungen der Persönlichkeitsentwicklungen der
    Kinder, 
  • das Auflösen erfolgreicher Betreuungssmodelle, 
  • gerichtlich herbeigeführte Wechselmodelle, 
  • ad-hoc Umplatzierungen ohne Folgenabwägungen,
  • problematische Inobhutnahmen ohne die gesetzlich vorgeschriebene „dringende Gefahr“ sowie 
  • die Aushebelung des Gewaltschutzes. 

Der auf Kindschaftsrecht spezialisierte Rechtsanwalt Pajam Rokni-Yazdi fordert abschließend: „Die strukturellen Defizite in familiengerichtlichen Verfahren ziehen sich durch alle Instanzen und gefährden zunehmend das Kindeswohl. Gerade erst der Verlauf der gerichtlichen Verfahren führt zu zunehmenden kindlichen Loyalitätskonflikten und Koalitionsdruck. Trotz bestehender gesetzlicher Beschleunigungsgebote und Amtsaufklärungspflichten: Zu lange Verfahrensdauern und nicht ausreichende Sachverhaltsermittlungen sind für Kinder nicht mehr hinnehmbar. Es besteht sofortiger Handlungsbedarf.“ 

Und Daniela Jaspers, Bundesvorsitzende des Verbands alleinerziehender Mütter und Väter e.V. (VAMV), die die schnelle Einberufung einer überfraktionellen Aufklärungsgruppe fordert ergänzt: „Dringender Handlungsbedarf besteht bei Aus- und Fortbildungen für Akteure am Familiengericht und in Jugendämtern: Eine staatliche Zertifizierung muss Neutralität und Fachlichkeit sicherstellen. Familienrichterinnen und – richter wie Jugendämter brauchen Entlastung durch ausreichende Ressourcen.“ 

Die gesamte Studie sowie ergänzende Zusatzinformationen und Pressestimmen findet ihr auf der extra eingerichteten Website: familienrecht-in-deutschland.de

Von Sara Buschmann