Neue Studie: Alleinerziehende arm trotz Arbeit

Arm trotz Arbeit? Alleinerziehende haben das höchste Risiko

Rund 860.000 Menschen in Deutschland beziehen zusätzlich zu ihrer Erwerbstätigkeit Sozialleistungen. Unter diesen Aufstocker:innen befinden sich überdurchschnittlich viele Alleinerziehende. Gründe dafür sind vor allem Minijobs, niedrige Löhne und die schwierige Vereinbarkeit von Beruf und Kinderbetreuung.

Wir haben mit Sarah Menne und Antje Funcke von der Bertelsmann Stiftung über ihre Erkenntnisse aus der neuen Studie: Erwerbstätigkeit und Grundsicherungsbezug: Wer sind die Aufstocker:innen und wie gelingt der Ausstieg? gesprochen.

Sarah, Antje, was habt Ihr im Rahmen der Studie genau untersuchen lassen?

Sarah: Aufzustocken bedeutet, dass man trotz Erwerbstätigkeit den eigenen Lebensunterhalt und den der Familie nicht absichern kann und SGB II-Leistungen beziehen muss. Wir wollten mehr darüber erfahren, was Ursachen dafür sind, aufstocken zu müssen und wie auch ein Ausstieg aus dieser Situation gelingt. Dazu hat das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung für uns amtliche Statistiken der Bundesagentur für Arbeit aufbereitet sowie tiefer gehende Analysen mit dem „Panel Arbeitsmarkt und Soziale Sicherung“ durchgeführt.

Antje: In unseren Augen gibt es in den Medien und der Öffentlichkeit viel zu oft das Bild der „faulen Hartz IV-Familie“. Dem wollen wir mit der Studie etwas entgegensetzen. Denn viel zu oft wird vergessen: In einem großen Teil dieser Familien sind mindestens ein, manchmal beide Elternteile erwerbstätig. Und das, obwohl sie aufgrund von Anrechnungsregeln nur einen geringen Teil ihres Einkommens behalten dürfen.

Die Studie ist ja sehr komplex und zahlenlastig. Könnt Ihr uns einmal grob zusammenfassen, welche Erkenntnisse Ihr erlangt habt?

Antje: Wer einen Minijob hat oder im Niedriglohnbereich arbeitet, muss häufiger aufstocken. Aber auch die familiäre Situation spielt eine wichtige Rolle. Leben Kinder im Haushalt, so steigt das Aufstocker-Risiko deutlich an. Denn Kinder steigern einerseits den Bedarf der Familie, andererseits können Eltern oft nicht einfach mehr arbeiten, weil gute und passgenaue Betreuungsangebote fehlen und Kinder auch Zeit brauchen.

Sarah: Schaut man sich an, wem es von einem zum nächsten Jahr gelingt nicht mehr aufstocken zu müssen und von seinem eigenen Einkommen leben zu können, so wird deutlich: Paare ohne Kinder schaffen das viel häufiger als Paare mit Kinder. Zudem ist es bei Paaren mit Kindern häufiger im Folgejahr so, dass sie ihre Erwerbstätigkeit ganz aufgeben mussten und nur noch von Sozialleistungen leben.

Weshalb ist diese Studie insbesondere auch interessant, um die Situation Alleinerziehender einzuordnen?

Antje: Alleinerziehende müssen besonders oft aufstocken. Sie sind die Familienform mit dem höchsten Risiko, neben ihrer Erwerbstätigkeit zusätzlich SGB-II-Leistungen beziehen zu müssen. Jede:r sechste Alleinerziehende benötigt trotz Job Sozialleistungen.

Sarah: Alleinerziehenden fällt die Vereinbarkeit von Familie und Beruf besonders schwer. Denn es gibt keine zweite Person, die entweder bei der Carearbeit entlasten könnte oder durch einen zusätzlichen Job zum Haushaltseinkommen beitragen kann.

Antje: Alleinerziehende Mütter sind bereits häufiger in Vollzeit erwerbstätig als Mütter in Paarfamilien. Das wissen wir aus unseren Studien. Der Ruf nach „einfach mehr arbeiten“ greift zu kurz, denn es fehlen gute Strukturen wie gute ganztägige Betreuungsangebote und auch die Absicherung der Bedarfe der Kinder ist nicht auf anderem Wege gewährleistet.

Kann man also festhalten, dass das gängige Bild der „faulen Hartz-IV-Familie“ falsch ist?

Sarah: Uns stört dieses Bild, weil sich viele Familien sehr bemühen zu arbeiten. Gerade an den Aufstocker-Familien sieht man das: Sie sind erwerbstätig, obwohl sie nur einen kleinen Teil des eigenen Einkommens behalten dürfen und auch wenig ansparen können. Das kostet Zeit, die sie nicht mehr für ihre Kinder haben, und oft auch Geld – weil sie sich etwa andere Kleidung zulegen müssen oder Fahrtkosten haben.

Antje: Zudem wissen wir aus anderen Studien, dass Eltern sich bemühen Kindern ein gutes Vorbild zu sein, ihnen vieles zu ermöglichen und eher bei sich selbst sparen. Erhalten sie Leistungen für ihre Kinder, so setzen sie diese sinnvoll ein. Es gibt keinen empirischen Beleg dafür, dass Eltern Geldleistungen eher für eigene Zwecke verwenden, auch wenn sich dieses Vorurteil hartnäckig hält.

Welche Handlungsempfehlungen habt Ihr aus der Studie ableiten können?

Sarah: Kinder dürfen in Deutschland kein Armutsrisiko sein und jede:r sollte von seinem Einkommen auch leben können. Das sollte unser Ziel sein. Notwendig sind für uns daher verschiedene Reformen: Wir brauchen eine Kindergrundsicherung, die die Bedarfe der Kinder und Jugendlichen für gutes Aufwachsen, Bildung und Teilhabe absichert. Und gleichzeitig brauchen wir auch gute ganztägige Betreuungsangebote in Kita und Schule und familienfreundliche Arbeitsmodelle, die die Vereinbarkeit von Job und Familie ermöglichen. Zeit für Familie und Carearbeit sollten gesellschaftlich stärker anerkannt werden

Antje: Daneben müssen wir auch an die Minijobs und den Niedriglohnsektor ran. Minijobs sollten in sozialversicherungspflichtige und somit auch krisenfestere Beschäftigung umgewandelt werden. Wir sollten auch nicht weiter akzeptieren, dass der Niedriglohnsektor für viele Menschen zu einer Sackgasse wird, aus der sie nicht herauskommen.

Und wie ordnet Ihr diese angesichts des Koalitionsvertrags ein? Was wird helfen, was eher nicht?

Sarah: Der Koalitionsvertrag ist in vieler dieser Punkte ein großer Schritt, über den wir uns freuen. Vor allem die geplante Kindergrundsicherung ist ein Meilenstein, um Kinderarmut – von der ja gerade Alleinerziehende stark betroffen sind – endlich zu vermeiden. Entscheidend ist, dass die tatsächlichen Bedarfe von Kindern und Jugendlichen dabei abgesichert werden – und nicht nur das Existenzminimum. Mit Blick auf die Kosten einer solchen Reform sollte der Fokus auf der Armutsvermeidung liegen. Außerdem muss das Geld auch dort ankommt, wo das Kind lebt – das ist im Falle von alleinerziehenden und getrennten Familien unerlässlich.

Antje: Auch der im Koalitionsvertrag geplante Qualitätsrahmen für Ganztagsangebote in Kita und Grundschule sowie die Gesamtstrategie, um den Fachkräftebedarf zu decken, sind wichtig und richtig. Mit Blick auf die Minijobs hätten wir uns mehr gewünscht. Denn die im Vertag angedachte Anhebung der Minijob-Grenze auf 520 Euro verschärft die Minijob-Falle und die damit einhergehenden Fehlanreize eher – insbesondere für Frauen und Mütter. Auch mit Blick auf die Anerkennung und Wertschätzung von Care-Arbeit hätten wir uns weitergehende Impulse mit Blick auf Familienzeitmodelle o.ä. gewünscht.

Wir sind gespannt, wie die neue Regierung die angesprochenen Themen angehen wird und ob perspektivisch bei Alleinerziehenden etwas mehr ankommt. Vielen Dank für das Interview und Eure wichtige Arbeit. 

© Vitolda Klein, Unsplash

Von Sara Buschmann