Wenn die Kinder 18 sind, mache ich Champagner auf #2
“Das melde ich dem Jugendamt”
Mir verschlägt es nicht so leicht die Sprache. Aber an jenem bitterkalten Wintertag vor drei Jahren, als ich mit meiner jüngsten Tochter beim therapeutischen Reiten war, da wäre es beinahe passiert. Ich war meinem Kind zur Hilfe geeilt, von dem ich sah, dass es entsetzt zu Boden guckte und völlig hilflos war. Sie stand neben ihrer Freundin, mit der sie gerne zum Reiten ging, und der Vater dieser Freundin redete auf beide ein. Als ich zu ihnen stieß, wurde ich Zeugin von einer Art Schimpftirade, die darin gipfelte, dass der Mann, der sich in Rage geredet hatte, zu mir wendete und mich anfuhr: „Und überhaupt hat sich meine Tochter, seitdem Sie mit Ihrem Kind befreundet ist, sich sehr negativ verändert!“
Während ich noch daran schluckte, diese Botschaft zu verarbeiten, legte er nach und verkündete in Gegenwart der verschüchterten 9-Jährigen: „Ihre Tochter ist schlecht erzogen. Alle schlechten Eigenschaften, die Dora* hat, stammen von ihr!“ Wow, einfach nur wow. Ich spürte, wie mein eigenes Kind zusammenzuckte, als habe der fremde Vater sie geschlagen. In mir stieg die kalte Wut auf. Was bildete dieser Mann sich ein!? Erstens ist es einfach nur dumm, solche Behauptungen aufzustellen, und zweitens klärt man so etwas wenn, dann unter Erwachsenen – ohne dass die beteiligten Kinder sich solche Sätze anhören müssen.
Leider war ich in dem Moment zu schockiert, um genau das zu sagen. Ich brachte es gerade noch fertig, ihm zu entgegnen, dass das Verhalten meiner Tochter in vielen Situationen auf ihren Asperger Autismus zurückzuführen sei, und überhaupt nichts mit schlechter Erziehung zu tun hat, sondern einfach typisch für Autisten sei, aber das brachte herzlich wenig. Also nahm ich meine Tochter an der Hand und sagte, dass wir uns das nicht anhören müssen, und wir gingen. Natürlich war mein Kind völlig verstört und verletzt, ich musste sie lange trösten, und auch das andere Mädchen, das ein sehr nettes Kind war, tat mir furchtbar leid. So einen Vater wünscht man seinen schlimmsten Feinden nicht!
Doch damit war es nicht genug: Nach jenem Zwischenfall besuchte uns Dora* noch ein paar Mal, und ich weiß noch genau, wie sie eines Tages ganz bedröppelt bei mir im Flur stand und beichtete, ihr Vater habe gesagt, er melde uns beim Jugendamt, weil es bei mir keine Medienzeitbegrenzung gebe. Ich konnte mir gut vorstellen, wie es zu dieser Aussage gekommen war, denn Dora lebte in einem Haushalt mit knallharten Erziehungsregeln, wo Süßigkeiten streng rationiert wurden, Hausarrest als häufig verwendete Erziehungsmethode zum Einsatz kam, und auch Anschreien an der Tagesordnung war, wie ich wiederum von meiner eigenen Tochter gehört hatte. Sprich, viel unterschiedlicher konnten die beiden Familienstile nicht sein. Tatsächlich hatte ich schon ein paar Mal überlegt, ob ich mit den Eltern der Freundin darüber reden sollte, dass Gewalt in der Erziehung nicht mehr erlaubt ist und was alles unter Gewalt fällt, aber aufgrund des schlechten Verhältnisses untereinander hätte das wohl wenig Sinn gemacht, man hätte mir eh nicht zugehört. Offenbar hatte Dora also versucht, etwas mehr Medienzeit für sich selbst rauszuschlagen, und dabei die laxen Regeln in meiner Familie als Argument ins Feld geführt. Und nun hatte sie Angst, dass sie uns damit geschadet hatte, denn sie war ein liebendwürdiges Kind.
Ich lachte amüsiert auf, und Dora schaute mich erstaunt an. „Mach dir keine Sorgen, sag deinem Vater schöne Grüße, das kann er gerne tun“, erklärte ich dem Besuchskind. „Mit dem Jugendamt arbeite ich seit vielen Jahren sehr vertrauensvoll zusammen, die wissen genau, wie es hier zugeht, und es ist alles in Ordnung.“ Dora wirkte sehr erleichtert, das zu hören – und es war nichts als die Wahrheit, denn wir hatten für etwa zwei Jahre einen Familienhelfer vom Jugendamt, regelmäßig bei Hilfeplangesprächen mit dem Amt zu tun, und ein super Verhältnis zu unserer Sachbearbeiterin.
Nun hat leider nicht jede Alleinerziehendenfamilie das Glück oder Pech, bereits ein Clearingverfahren vom Jugendamt durchlaufen zu haben, und somit „superclean“ zu sein. Aber diese Antwort, die kann ich allen ans Herz legen. Und auch der ebenfalls im Kontakt mit Schule, Nachbarn und Vermietern sehr kummererfahrenen alleinerziehenden Bloggerin Claire Funke hat der Satz schon gute Dienste geleistet, wie sie kürzlich twitterte:
Als ich das Kind gerade zum Fahrdienst bringen wollte kam die Nachbarin aus der Wohnung geschossen. Maulte mich an, das meine Kinder zu laut sind und drohte: „Da ruf ich das Jugendamt an.“ Selten war ich ruhiger in solchen Situationen. Ich antwortete: „Machen Sie das.“ Und ging.
— Claire Funke (@Mamastreikt) December 6, 2021
Lasst euch nicht einschüchtern, bleibt selbstsicher und gelassen, wenn’s geht. Das ist gut für die Seele. Und immer dran denken: Ihr macht das gut!
Alles Liebe,
eure Christine
Über die Autorin
Christine Finke ist Autorin, macht Kommunalpolitik und lebt in Konstanz am Bodensee. Unter „Mama arbeitet“ bloggt sie seit 2011 über ihr Leben als Alleinerziehende. Christine hat drei Kinder, von denen zwei noch Zuhause leben – und zwei Katzen, die bei Zoomkonferenzen für Erheiterung sorgen.
Von Christine Finke