Interview mit Heidi Thiemann

»Das kann doch nicht wahr sein, dass sich da so wenig getan hat«

Heidi Thiemann hat mit Alltagsheld:innen 2021 die erste bundesweite Stiftung für Alleinerziehende gegründet. Wir haben mit der Rheinländerin gesprochen und das erste Stiftungsjahr einmal Revue passieren lassen. 

Heidi, nun gibt es Alltagsheld:innen schon seit fast einem Jahr. Bist Du zufrieden mit diesen ersten Monaten?

Wir können für das erste Jahr eine gute Bilanz ziehen. In 2021 haben wir die Belastungen von Alleinerziehenden durch die Pandemie in den Mittelpunkt gestellt und zahlreiche Projekte in Deutschland gefördert, die sich hauptsächlich um Unterstützung und Entlastung von Ein-Eltern-Familien durch Corona kümmern. Dazu gehörten Freizeitangebote, die das Empowerment der Mütter in den Mittelpunkt stellen, eine Beratungshotline speziell für Alleinerziehende, die pandemiebedingt Probleme in der Familie haben, aber auch konkrete Hilfestellungen wie Umgang mit Medien für migrantische Mütter, die mit homeschooling konfrontiert waren, Hausaufgabenhilfe für Kinder aus benachteiligten Stadtvierteln und Drogeriegutscheine für Alleinerziehende aus Berlin.

Auch ein internationales Projekt haben wir unterstützt: In Marokko sind Alleinerziehende rechtlich schlechter gestellt als bei uns, sie erhalten dort allermeist keinerlei Unterhalt oder eine staatliche Ersatzleistung wie in Deutschland, sind also besonders darauf angewiesen, erwerbstätig zu sein. Das geht nur mit verfügbarer Kinderbetreuung, die gerade in der Pandemie eine besondere Herausforderung war und ist. Wir haben ein Projekt in Tanger – 100% Mamans – unterstützt, die das anbietet.

Wir haben auch mit anderen Akteuren, die zum Teil schon seit vielen Jahrzehnten für Verbesserungen kämpfen, gute Arbeitskontakte aufgebaut. Beispielsweise haben wir gemeinsam 8 Forderungen an die neue Ampel-Regierung formuliert und an die Koalitionsparteien gesendet. Wir haben uns auch gefreut, dass Solomütter darüber berichtet hat.

Vielleicht noch einmal einen Schritt zurück: Wie kam es überhaupt zur Gründung dieser Stiftung und wer steht dahinter?

Ich war selbst viele Jahre alleinerziehend, kenne diese Lebenssituation also sehr gut. Seit meiner Jugend bin ich Feministin und habe die Strukturen, die mir das Leben als Alleinerziehende schwer machten, mit meinen Freundinnen analysiert und als Teil eines patriarchalischen Systems eingeordnet.

Meiner Meinung nach soll es seit Jahrhunderten Müttern systematisch schwer gemacht werden, ohne Männer / Väter mit ihren Kindern fröhlich und abgesichert leben zu können. Wir spüren bis heute die Auswirkungen dieser frauenfeindlichen Vorstellung, bei der unzureichenden Kinderbetreuung, fehlender Familienfreundlichkeit in Unternehmen und diskriminierender Steuergesetzgebung, auch wenn man nicht mehr erwartet, dass sich eine ledige Mutter umbringt, wie noch vor hundert Jahren. Nun könnte man erwidern: Was ist denn mit den alleinerziehenden Männern? Die erleben auch Diskriminierung, allerdings ist ihre Situation etwas anders. Statistisch gesehen leben bei ihnen eher die größeren Kinder, daher arbeiten auch sehr viel mehr Solo-Väter in Vollzeit als die Solo-Mütter und haben weniger finanzielle Probleme. Man könnte die alleinerziehenden Männer salopp gesprochen als Kollateralschaden des patriarchalischen Systems sehen – sie waren darin eigentlich nicht als Carearbeiter vorgesehen.

Als ich vor ein paar Jahren – meine Söhne waren bereits erwachsen – als Gleichstellungsbeauftrage arbeitete, hatte ich wieder die Alleinerziehenden bei mir im Büro sitzen, die von nahezu denselben Problemen berichteten, die ich aus den 90er und Nuller-Jahren kannte. Da dachte ich: Das kann doch nicht wahr sein, dass sich da so wenig getan hat! So entstand die Idee zur Stiftung. Mit der habe ich schließlich viele Menschen überzeugen können, die das Startkapital für die Stiftung gaben.

Wie haben potentielle Spender:innen auf Eure Anfrage reagiert? Hattet Ihr das Gefühl, dass es in der Bevölkerung bereits eine Sensibilität für die Herausforderungen des Alleinerziehendendaseins gibt?

Wir sind mit unserer Arbeit auf Spenden angewiesen und müssen die Wichtigkeit unserer Arbeit daher deutlich machen. In jedem Spendenaufruf informieren wir über die vielzähligen Barrieren und Grenzen durch Gesellschaft und Gesetze, denen Alleinerziehende ausgesetzt sind. Es gibt jedoch durchaus ein Gespür für die Ungerechtigkeiten. Laut Familienreport des Familienministeriums von 2020 sagen z.B. 84 Prozent der Bevölkerung, dass Alleinerziehende besser unterstützt werden müssen. Wir dürfen gespannt sein, ob die Ampelregierung hier endlich wirksame neue Wege beschreitet.

Was ist perspektivisch Euer Hauptanliegen und wie wollt Ihr dies erreichen?

Die Alltagsheld:innen sind die erste bundesweite Stiftung für die Rechte von Alleinerziehenden. Darin steckt bereits unser Arbeitsauftrag: Wir wollen dazu beitragen, dass sich die Rahmenbedingungen verbessern und Diskriminierungsstrukturen abgebaut werden, damit Alleinerziehende mit ihren Kindern finanziell abgesichert, diskriminierungsfrei und selbstbestimmt leben können. Dafür ist noch viel zu tun.

Unser Arbeitsansatz hat vier Säulen: Die Projektförderung von innovativen Ideen anderer Vereine und Verbände, eigene mehrjährige Projektschwerpunkte zu Alleinerziehenden-Themen, die bisher noch nicht ausreichend beachtet wurden, zudem Bildungs- und Informationsarbeit sowie Stärkung von Initiativen und Verbänden, die gleiche Ziele wie wir haben. Wir wollen mit unser Arbeit Entscheider:innen in Politik und Gesellschaft erreichen und damit grundlegende Verbesserungen bewirken.

Uns ist auch die internationale Arbeit sehr wichtig, da wir zeigen wollen, dass viele Benachteiligungsstrukturen von Solomüttern trotz unterschiedlicher Kulturen und Nationalitäten derselben Logik folgen, auch wenn sie Alleinerziehende in anderen Ländern teils viel härter diskriminieren.

Ihr habt im letzten Jahr ja schon einige Initiativen für Alleinerziehende supportet. Auch wir SOLOMÜTTER haben von monetärer Unterstützung für unsere Redaktion profitieren können. Wer kann sich bei Euch bewerben?

In erster Linie unterstützen wir Projekte, die strukturelle Veränderung zum Ziel haben und gesellschaftliche Wirkung zeigen, insbesondere Projekte mit innovativem Charakter. Voraussetzung ist, dass es eine gemeinnützige Organisation gibt, bei der das Projekt angesiedelt ist. Das kann ein lokaler Verein sein oder auch ein großer Verband.

Wie wählt Ihr Eure Projekte aus und was ist aus Eurer Sicht besonders wichtig?

Wir haben in 2021 Förderlinien für Projekte entwickelt. Es gibt im Jahr vier Termine für die Einreichung von Projekten. Uns ist die Transparenz der Entscheidungen sehr wichtig. Wir haben ein internes Bewertungssystem entwickelt, das jeder Antrag bei uns durchläuft. Besonders hoch bewerten wir neue Ideen, die das Potential haben, eine grundsätzlichere Veränderung herbeizuführen. Projekte, die sich an Alleinerziehende, die besonders marginalisiert sind, werden auch gerne von uns gefördert. Die partizipative Gestaltung der Projekte mit der Zielgruppe ist ebenfalls ein Kriterium. Wir beraten Antragsteller:innen gerne, die sich unsicher sind, ob sie Chancen haben oder wie sie die Formulare ausfüllen sollen.

Gibt es so etwas wie ein Lieblingsprojekt für Dich?

Ich erfreue mich an der Vielfalt der Ideen, die uns die unterschiedlichen Träger präsentieren. Natürlich finden wir eure Plattform schon „outstanding“. 😉

Könnt Ihr uns schon ein bisschen was dazu verraten, was in 2022 so passieren wird?

Für die kommenden zwei Jahre haben wir uns zwei Schwerpunktthemen gesetzt. Zum einen wollen wir uns intensiver mit den strukturellen Barrieren von migrantischen Alleinerziehenden befassen, da diese Gruppe innerhalb der Alleinerziehenden noch einmal verstärkt von Benachteiligung betroffen ist.  Ein zweiter Schwerpunkt wird das Thema Wohnen als Ein-Eltern-Familie sein. Hier wollen wir Alleinerziehenden den Zugang zu bezahlbaren Wohnungen erleichtern. Die Vorhaben der neuen Regierung sehen ja viele neue, staatlich geförderte Wohnungen vor. Wir werden uns mit unseren Partner:innen dafür einsetzen, dass Alleinerziehende davon profitieren.  Dabei ist uns auch die Qualität des Wohnens besonders wichtig. Wir wollen keine kleinen Schachtelwohnungen, wo Solo-Eltern isoliert hausen, sondern fördern Ideen und Konzepte , die Alleinerziehenden mehr Lebensqualität durch solidarische Wohnformen ermöglichen.

Zum Wohnen veranstalten wir am 18. Januar 2022 unsere 2. Held:innen-Debatte, – ein Digitalformat, in dem wir mit Betroffenen und Akteur:innen des Themenbereichs die Hürden und Bedarfe herausarbeiten wollen. Interessent:innen können sich dafür bei stiftung@alltagsheldinnen.org bis zum 14.01.2022 anmelden.

Danke, Heidi, für dieses Gespräch, Dein Engagement und Eure Unterstützung.

Über Heidi Thiemann

»Ich habe die Stiftung gestartet, weil ich feststellen musste, dass sich für Alleinerziehende in den vergangenen 30 Jahren fast nichts zum Positiven bewegt hat. Also dachte ich: Dann müssen wir das jetzt tun.« 

Heidi Thiemann hat mit Alltagsheld:innen die erste bundesweit aktive Stiftung für Alleinerziehende gegründet. Ihre beiden Söhne zog sie großteils alleine groß. Seit ihrer Jugend engagiert sich Heidi Thiemann für mehr Geschlechtergerechtigkeit. In den vergangenen 25 Jahren arbeitete sie in der Entwicklungszusammenarbeit und als Gendertrainerin. 

Über die Stiftung Altagsheld:innen

Die Stiftung Alltagsheld:innen setzt sich dafür ein, Gesellschaft so zu gestalten, dass sie Alleinerziehende und ihre Kinder in ihrer Vielfalt nicht mehr benachteiligt. 

Als erste bundesweite Stiftung für Alleinerziehende mit Sitz in Hilden, Nordrhein-Westfalen, fördern die Alltagsheld:innen innovative Projekte, die grundsätzlich und langfristig zur Verbesserung der konkreten Lebenssituation von Alleinerziehenden beitragen. Die Stiftung möchte Impulse für relevante Themen setzen, Netzwerke stärken und initiiert wissenschaftliche Untersuchungen zu den verschiedenen Bedarfen von Ein-Eltern-Familien. Zusammen mit Partner:innen aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft schafft sie gesellschaftliche Veränderung durch Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit.

Von Sara Buschmann